Wir sind Gott unendlich wichtig!
"Kein Sklave kann zwei Herren dienen… Ihr könnt nicht zugleich Gott und dem Geld dienen."
Dieses Gleichnis Jesus ist schon deshalb eine Herausforderung, weil er eine Alternative benennt, deren Existenz und Legitimität zunächst aufgewiesen werden muss. Bleiben wir beim Caritasverband: Er wurde eigens deshalb gegründet, weil Kirchengemeinden und sonstige Initiativen Ende des 19. Jahrhunderts in ihrem sozialen Engagement an Grenzen stießen, beispielsweise bei der Beschaffung, Verwendung und Abrechnung von finanziellen Mitteln, bei der Professionalisierung von Diensten oder im Organisieren von Hilfen, wo Einzelne oder kleine Gemeinschaften überfordert waren. Dass Finanzen für Leistungserbringer im wörtlichen Sinn not-wendig sind, ergibt sich bereits aus der Bezeichnung: Hilfeempfänger setzen - wenn ihnen wirksam geholfen werden soll - das Erbringen von Hilfeleistungen voraus. Diejenigen, die diese Hilfen erbringen sollen, müssen dazu auch in der Lage sein. Und dazu zählen u.a. Geld, Eignung, Profession.
Doch mir scheint, dass es Jesus im Gleichnis um etwas anderes geht. Auffällig ist ja zunächst, dass der "kluge Verwalter" nicht wegen seiner "Gaunereien" von Jesus gelobt wird. Vielmehr wegen seiner klugen Vorausplanung und Voraussicht. Hier kommt schon mehr vom Caritasverband zum Vorschein - was ihn kennzeichnet, oder vorsichtiger formuliert: Wie er (zumindest) sein sollte: vorausschauend, planend, nachhaltig im Wirtschaften und in der Ressourcennutzung, besorgt um Mit- und Umwelt. Der Caritasverband darf weder wirtschaftlich unsinnig oder leichtfertig handeln, noch ist er Selbstzweck. Er hat eine kirchliche Sendung, einen Sendungsauftrag. Unser Erzbischof formulierte es anlässlich des Festes des Heiligen Ansgar 2022 in seinem Hirtenwort so:
"Ich begreife unser Kirche als dienende Gemeinschaft…Eine karitative Haltung ist für mich wesentlich und zukunftsweisend. In der Pastoral unseres Erzbistums und unserer Pfarreien muss Caritas an Bedeutung gewinnen. In einem ersten Schritt möchte ich die Akteure einladen und stärker miteinander vernetzen."
Kirche - so sagt es unser Erzbischof - wird als "dienende Gemeinschaft" begriffen, die dort aktiv wird, wo Menschen an der vollen Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gehindert werden. Die Vielfalt der Aufgabenfelder der Caritas auch nur exemplarisch hier aufzählen zu wollen, ist eine beinahe unlösbare Aufgabe.
Allerdings gibt ein weiteres Gleichnis Jesu einen untrüglichen Fingerzeig auf die Beantwortung der Frage, worum es der Caritas zu tun ist, was sie auszeichnet, wozu sie in all den Jahren ihres Bestehens mit all den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beigetragen hat:
Jesus erzählt nämlich, wie im Bergland von Judäa ein Hirte mit seinen Schafen unterwegs ist. Und er stellt fest, dass von den 100 Schafen, die ihm anvertraut sind, eines fehlt. Was macht er in seiner Sorge um das (zunächst) "verlorene" Schaf? Er lässt all die anderen, die ja in Sicherheit sind, zurück, um das "verlorene Schaf" zu suchen.
So, meint Jesus, müssen wir uns die Liebe Gottes vorstellen: Er geht uns nach, er sucht uns. All die Irrungen und Wirrungen menschlichen Lebens sind keine "gottlosen" Wege, weil er uns hinterhergeht. Das Entscheidende nun ist, dass Jesus uns Menschen allesamt so sah: als verlorene und verlaufene Schafe, die von selber durchaus nicht nach Hause finden können…
Mag sein, dass manch‘ einer die Stirn runzelt und sagt, dass dies ja wohl eine allzu pessimistische Weltsicht sei. CARITAS kommt ins Spiel, wenn Eugen Drewermann in seiner lesenswerten Dostojewski - Interpretation "Dass auch der Allerniedrigste mein Bruder sei" (1) zu bedenken gibt:
"Vielleicht wissen wirklich nur diejenigen, die ganz buchstäblich nichts mehr zu verlieren haben, wie bedingungslos wir Menschen darauf angewiesen sind, von Grund auf angenommen zu sein und das Gefühl haben zu dürfen, berechtigt auf der Welt zu sein." (2)
Wem kommen heute an dieser "Diagnose" noch ernsthafte Zweifel angesichts der vielen Unsicherheiten, des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, der vielen Schwierigkeiten mit der Corona-Pandemie und den Auswirkungen der globalen Klimakrise?
Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI. benennt diese grundlegende Abhängigkeitssituation des Menschen ganz ähnlich und bringt das Verhältnis von Glaube und Liebe treffend zum Ausdruck, wenn er
"Glauben …als Ausdruck für ein letztes Empfangenmüssen des Menschen, für das Ungenügen aller eigenen Leistung...." (3) beschreibt.
Man könnte sogar vom "Ort" des Glaubens in der Liebe sprechen. Einer Liebe, die nichts und niemanden ausgrenzt. Ganz im Gegenteil:
"Das ‚unterscheidend Christliche‘ nach Rahner ist das allen Menschen von Gott angebotene, seine Gnade. Während, so kann man sagen, sich andere Identitäten durch Abgrenzungen bestimmen, ist das Christliche als das Gemeinsame aller Menschen aufgrund ihrer Herkunft und Zukunft in Gott auszulegen." (4)
Das beschreibt nicht nur ein atemberaubendes Gottesbild! Es sagt auch Entscheidendes über uns aus: Wir sind Gott unendlich wichtig. So wichtig, dass SEINE Liebe sich im Umgang mit uns, mit seiner Schöpfung riskiert und sich an sie verschwendet. Und nicht nur das: Kirche, Caritas kommen hier zu ihrer letzten Wesensbestimmung. Denn es ist SEINE Einladung: Mitzutun, IHN nachzuahmen in der Liebe zu allem, was geschaffen worden ist.
Mir scheint, Caritas hat "in der Welt von heute", die so ungeheuer schnelllebig und komplex und kompliziert ist, eine Aufgabe, die ihr niemand abnehmen kann: Mehr noch als durch Worte als vielmehr durch Taten im Leben Zeugnis abzugeben für die Freude unseres Glaubens, der nur als Liebe glaubhaft ist und der eine Hoffnung vermittelt, "die sich keine Grenze endgültig befehlen lässt." (Karl Rahner)
Und ein Weiteres: Caritas hat auch die Wahrnehmung dafür zu schärfen, dass wir in unserem Sendungsauftrag viele "anonyme Verbündete" haben. Das ist entlastend und ermutigend zugleich! Wer unseren Pastoralen Orientierungsrahmen ernst nimmt, kann davon ausgehen, dass die Gottsuche nicht im "luftleeren Raum" geschieht. Sie wird erfahren und vermittelt im solidarischen und aufbrechenden Handeln, in vernetzten Strukturen, die Wege ebnen, die menschennah und aufsuchend sind.
"Es ist die absolut beunruhigende Zusage, dass Gottes Heilswille dem innerweltlichen Heilshandeln der Kirche ‚vorwegläuft‘ und Gott so seine Kirche zum Nachkommen drängt." (5)
Gibt es ein Caritas-Leitbild? Ja, sicher: "Not sehen und handeln". Oder das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter. Für mich kommt es einem Vermächtnis gleich, das es vielfach noch einzulösen gilt, wenn Martin Luther King formuliert:
"Gewiss ist es unsere Verpflichtung, die Rolle des barmherzigen Samariters für alle diejenigen zu übernehmen, die am Wege liegengeblieben sind. Doch das ist nur der Anfang. Eines Tages müssen wir begreifen, dass die ganze Straße nach Jericho geändert werden muss, damit nicht fortwährend Menschen geschlagen und ausgeraubt werden." (6)
Und vielleicht müssen wir auch über diese Vision Martin Luther Kings noch hinausgehen: Es ist zudem wichtig, mit dafür zu sorgen, dass Menschen in Lebensverhältnissen aufwachsen und leben, die sie schützen- und liebenswert erleben. Womöglich wird dann nicht nur das "Räubern" aufhören, sondern sich in Dankbarkeit und Freude über das Geschenk des Lebens inmitten einer Gemeinschaft der Liebe verwandeln.
(1) "Dass auch der Allerniedrigste mein Bruder sei" - Eugen Drewermann zur Interpretation von Dostojewski, Zürich-Düsseldorf 1998
(2) Ebd.
(3) Ratzinger/Benedikt, "Einführung in das Christentum, Neuauflage, München 2011, S. 254
(4) Roman Siebenroch in: "100 Jahre Karl Rahner - Nach Rahner - post et secundum", Köln 2004, S. 86
(5) Ralf Miggelbrink "Ekstatische Gottesliebe im tätigen Weltbezug", Altenberge 1989, S. 150
(6) "Unterwegs" - Jugend im Gespräch mit Gott, Leipzig 1977