Corona und kein Ende? oder Das Fragen (neu) zu lernen
"Das hat es so noch nie gegeben", so die Meinung, die man heute sehr oft hören kann. Manch‘ einer fragt sich: "Womit haben wir das verdient?" Und wieder andere Menschen suchen Zuflucht, indem sie in eine sehr fragwürdige Religiosität flüchten. Dann nämlich, wenn sie ohne viel darüber nachzudenken von einer "Strafe Gottes" reden. Einige glauben fast ‚blind‘ irgendwelchen skurrilen Verschwörungstheorien, denen zumeist antisemitische und antijüdische Vorurteile zugrunde liegen. Andere wiederum - sicher ein mehr ‚östliches‘ Phänomen - sehen sich bestätigt: "Wir haben es schon immer gewusst. Der Kapitalismus, die Sucht und die Gier nach Profit ist an allem schuld." Nicht selten kann man heute in einigen Printmedien lesen, was für viele als längst überwunden galt: "Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist." Im sprichwörtlichen ‚Volksmund‘ sagt man es einfacher: "Geld regiert die Welt". Und: "Weil der Mensch nie genug bekommen kann, so ist das jetzt die gerechte Strafe".
Fragen über Fragen, die Übersicht geht verloren, auch der Halt und die Orientierung. Was gilt noch? Woran kann man sich halten?
Bei all dem kann man zunächst eines nicht übersehen: Unsere z.T. rücksichtslose Ressourcenverschwendung bleibt nicht ohne Folgen. Die Vernichtung von vielen Tier - und Pflanzenarten, die Klimaveränderung, die in ungekanntem Ausmaß vor sich geht seit der ‚industriellen Revolution‘, die Vernichtung wertvollen Lebensraumes - all das erschüttert den Wahn des modernen Menschen, der z.T. meint, (fast) alles zu können. Dieser Wahn wird oftmals abgelöst durch ungeahnte Ängste und Sorgen, die nicht selten irrational und panisch sich aufführen.
Im Hintergrund von allem steht eine grundsätzliche Frage: Was ist es mit dem Menschen, mit der Welt - mit Gott? Denn all diese Fragen sind nicht neu, sie sind uralt. Eigentlich sind sie so alt wie die Menschheit. Und damit kommen auch die Religion und Glauben ‚in‘ s Spiel‘´, obwohl sie schon so häufig todgesagt wurden. Denn mit all diesen Fragen, Nöten, Hoffnungen beschäftigen sich Religionen und versuchen, auf ihre Weise Antworten zu finden und zu vermitteln.
Wenn wir auf die Antwort des Glaubens hören, so bedarf es entsprechender Zugänge. Mir erschließt sich die Möglichkeit des Glaubens angesichts einer unbegreiflich erscheinenden Welt besonders dann, wenn ich mich dem Bekenntnis oder der Biografie großer Glaubenszeugen des vergangenen Jahrhunderts zuwende. Warum? Weil es Im vergangenen 20. Jahrhunderts Fortschritte gab, wie es sie noch nie in der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Ich denke an die friedliche Nutzung der Kernenergie, an die Raumfahrt und die modernen Kommunikationsmöglichkeiten. Gleichzeitig gab es Katastrophen, Tragödien und Abstürze menschlichen Wahns in einem Ausmaß, das bis dahin unvorstellbar war. Als Symbol hierfür steht Auschwitz, ein Ort, in dem industriemäßig Menschen durch Vergasung vernichtet wurden. Über 6 Millionen jüdische Menschen fanden den Tod, über 50 Millionen Tote waren Resultat des zweiten Weltkrieges. Und ein weiteres Symbol: Der Einsatz zweier Atombomben in Japan. Die Reihe menschlicher Größe und menschlicher Abgründe im vergangenen Jahrhundert ließe sich beliebig vermehren.
Dieser äußerst ambivalenten Wirklichkeit musste und muss sich der Glaube stellen! Da hilft weder Leugnung noch Verdrängung. Ein Glaube, der an der Wirklichkeit zerschellt, der ihr nicht standhält, kann nicht für sich in Anspruch nehmen, für den Menschen das ‚Heil‘ zu verkünden. Genau das aber nimmt der Glaube, auch und besonders der christliche Glaube, für sich in Anspruch.
Schauen wir also zu. Der mit knapp 55 Jahren 1958 in Freiburg i.Br. verstorbene Schriftsteller Reinhold Schneider formulierte in seinem autobiografischen Werk "Verhüllter Tag" schon zu Beginn des Jahres 1954 seine Welt - und Glaubenserfahrung mit bewegenden Worten, die an prophetischer Klarsicht und kaum zu ertragendem Weltschmerz schwerlich zu überbieten sind.
"Aber - das ist die härteste Anfechtung - wenn wir das Zeichen Christi erkennen in der Geschichte, wie sollen wir es erkennen im All? Der Gang der Wissenschaft in den letzten fünfzig, hundert Jahren ist viel erregender als das Entsetzliche, das sich auf der Erde begab. Wir blicken in Tiefen und Fernen, denen wir nicht standhalten. Und auch sie sind ja nur Bilder des nicht Erschauten. Das Bewusstsein nicht denkbarer kosmischer Möglichkeiten verlässt mich niemals. Und ich sehe Christus vor ihnen, den tausend Millionen Milchstraßen und hundert Trillionen Sonnen und Milliarden Lichtjahren, und muss mir sagen, dass der Schaffende immer schafft, dass es so war und sein wird in irgendeiner Gestalt. Da er nur Freie schaffen kann, wird immer die Möglichkeit der Empörung sein und immer, in Gott, die von Christus gelebte Antwort. Wie, wenn durch die Schöpfung alle das Geheimnis eines ewigen Dramas kreiste? Wenn das Leiden herniederstiege und aufstiege und ewig wäre? Aber das kann ich nur sagen, wenn ich g l a u b e. Und immer ist die Gefahr, dass das Licht vom Lichte in der unmeßbaren Finsternis ertrinkt. Ich höre keine furchtbarere Rede als das ‚Schweigen der unendlichen Räume‘ (Pascal)"[1]
Diesen Worten ist schwerlich etwas hinzu zu fügen als vielleicht noch der Hinweis, dass die Antwort des Glaubens nur dort echt sein kann, wo sie sich dieser Herausforderung stellt. Auch heute, in einer Zeit, in der vieles in Wanken gerät, kann uns diese schonungslose Analyse darauf aufmerksam machen, dass wir uns gar nicht in einer ‚Sonderposition‘ befinden, sondern in einer Fragestellung, die ich als ‚menschheitliche‘ bezeichne. Denn alle existentiellen Fragen kreisen doch um eine Kernfrage: Was ist es mit dem Menschen? Aufschlussreich ist für mich in diesem Zusammenhang, dass zwei große Theologen, Karl Rahner und Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.), in zwei ihrer wichtigsten Werke zu ganz ähnlichen Aussagen gelangen. Hören wir zunächst Joseph Ratzinger, der Ende der 60iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts über den Menschen schrieb:
"Aus dem >>Lehm<< war in dem Augenblick der Mensch geworden, in dem ein Wesen nicht mehr bloß >>da war<<, sondern über das Da-Sein und die Erfüllung seiner Bedürftigkeit hinaus eröffnet war auf das Ganze…als erstmals ein Wesen aus Staub und Erde über sich und seine Umwelt hinausblickend Du zu Gott zu sagen vermochte." [2]
Und Karl Rahner schrieb in seinem "Grundkurs des Glaubens":
"Wir können heute nicht mehr so leicht sagen, dass dort schon Mensch ist, wo ein Lebewesen dieser Erde aufrecht geht, Feuer macht und einen Stein zum Faustkeil bearbeitet. Wir können nur sagen, dass dann ein Mensch ist, wenn dieses Lebewesen denkend, worthaft und in Freiheit das Ganze von Welt und Dasein vor sich und in die Frage bringt, mag er auch dabei vor dieser einen und totalen Frage ratlos verstummen…eigentlich existiert der Mensch nur als Mensch, wo er wenigstens als Frage, wenigstens als verneinende und verneinte Frage ‚Gott‘ sagt…Wo keine Frage mehr wäre, wo die Frage schlechthin gestorben und verschwunden wäre, brauchte man natürlich auch keine Antwort mehr zu geben…"[3]
Ratzinger und Rahner betonen gleichermaßen, dass Menschsein damit zusammenhängt, "über die Erfüllung seiner Bedürftigkeit hinaus" zu sein. Rahner indes geht noch weiter, wenn er betont, dass der Mensch eigentlich nur ein Mensch ist, wenn er das "Ganze von Welt und Dasein…in die Frage bringt". Selbst auf die Gefahr hin "vor dieser einen und totalen Frage ratlos (zu) verstummen." D. h. doch auch, wenn wir unsere Situation heute genauer anschauen, dass die Krise - bei aller Dramatik und Tragik - auch in gewisser Weise eine Chance bietet. Eine Chance, vielleicht die richtigen, die wesentlichen Fragen zu stellen. Die Chance, Unwichtiges von Wichtigem zu unterscheiden, Verzicht einzuüben, wo der Überfluss uns zu ersticken droht, Neues auszuprobieren, wo die alten Geleise zu Ende sind, veraltet, überholt und nicht mehr hilfreich.
Es sind vor allem die "großen Fragen"[4], die uns als Menschen zu Menschen machen, die uns auf uns zurückwerfen, die uns mit uns selber konfrontieren, die es uns ermöglichen, "über sich und seine Umwelt hinausblickend" das große Ganze wahrzunehmen. Allerdings, mit all seinen Höhen und Tiefen, seinen Sonnen - und Schattenseiten, seinen Höhenflügen und Abgründen:
"… Was ist das für eine Welt, in der Kinder leiden müssen, und wie kann man es ändern, so dass wenigstens die Unschuldigen eine gewisse Chance zum Glück behalten? Das sind Gedanken, in denen Iwan Karamasow kreist. Es ist ein neues Argument des Atheismus: die Ungerechtigkeit und das Leiden der Unschuldigen in dieser Welt. Sie widerlegen Gott. Aus den Gründen der humanen Moral ist es unmöglich, an einen Gott zu glauben. - Aber augenblicklich kehrt die Frage zurück, wie es denn möglich ist, moralisch zu sein ohne Gott.- ‚ Es werden … die Menschen sich zusammenrotten, und sie werden aus diesem Leben alles herausziehen, was ihnen möglich ist, jedwedes Glück, mit aller Brutalität, denn es gibt keine Ewigkeit, und sie leben nur hier’. Aber wenn sie das tun, was soll sie dann hindern, bis zum Kannibalismus zu gehen? Wo soll eine Grenze sein? ‚ Ohne Gott ist alles erlaubt’, schreit förmlich Iwan und möchte nicht so denken, aber es ist wie ein Zwangssystem in seinem eigenen Kopf…" [5]
Wer kann, wer will diesen ‚Zirkel‘ auflösen? Das Leiden der Unschuldigen - es ist der "Fels des Atheismus" (Büchner) und bildet die eine Waagschale. Und die andere? "Ohne Gott ist alles erlaubt" - das kann doch nicht wahr sein. Das darf nicht wahr sein!
"Ist es wahr, dass man nach Auschwitz nicht mehr an Gott glauben kann? Oder ist es so, dass man gerade nach Auschwitz an Gott glauben muss, wenn man den Toten und allen anderen Trägern eines sinnlos erscheinenden Jammers nicht ihre letzte Würde und Bedeutsamkeit absprechen will?"[6]
Karl Rahners Analyse und Schlussfolgerung wird von Hans Urs von Balthasar mit eindringlichen Worten bestätigt:
"Der Mensch ziehe es vor, auf einen …Frieden jenseits des Irdischen zu verzichten und aus eigener heroischer Kraft sich mitten in der zerreißenden Existenz aufzuschwingen, wie Nietzsche, zur Bejahung der Welt, wie sie ist…zu diesem widerkäuenden Ungeheuer, diesem Willen zur Macht. Er sehe aber zu, dass er keines der Konzentrationslager aus dieser Bejahung ausklammere. Er mag es versuchen und zusehn, ob er dabei seine heilen Sinne behalten kann."[7]
Es sind diese Aussagen, die in alle möglichen Aporien hineinführen. Der Mensch, der (fast) alles kann, erlebt eine Zusammenballung von Mächten, die seine eigene Vernichtung bedeuten können. Der von vielen Philosophen gepriesene "Wille zur Macht" - wohin führt er? Wohin hat er bereits geführt? Und immer wieder taucht er auf, der Traum vom ‚ewigen Paradies‘. Von einem "Land, in dem Milch und Honig fließen", das wir selber ‚machen‘, ja herbeizwingen. Die ganze Theorie des Marxismus - Leninismus, die bei vielen ‚Linken‘ heute wieder höchst aktuell ist, lebt doch von diesem Impuls. Das ewige Reich des Friedens und der Gerechtigkeit - ein messianischer Impuls, der weit in die Politik hineinreicht und darüber hinaus greift. Wie gehen wir als Christen mit dieser Herausforderung um? Stellen wir uns ihr? Oder weichen wir aus? Auch hier kommt die ‚Tugend‘ des Fragens in‘ s Spiel:
"Aber die Frage kann nicht unterdrückt werden: wer ist schließlich das Subjekt dieses realen, materiellen Prozesses? Kein unbewusster, absoluter Geist, wie bei Hegel…Aber auch der Mensch nicht, der ja aus Not jenen Arbeitsprozess beginnt, der ihn in noch größere Not hineinführt, um ihn erst zuletzt zu erlösen. Wer also? Marx hat zu philosophieren aufgehört, als er Hegel entsagte; so wird die Sinnfrage im Ganzen nie mehr gestellt. Das Faktum, dass der Mensch ist, genügt. Dies Faktum selber erhellt kein Licht. So kann den Prozess schließlich nur eine absolute Notwendigkeit führen. Weder Gott noch Mensch, sondern die Logik der Sache, des Kapitals, dirigiert die Geschichte."[8]
Wenn das Kapital die Geschichte "dirigiert", was ist es dann mit der ‚Freiheit‘ des Menschen? Sie wird nicht nur von Ideologien, von Besitzverhältnissen bedroht und in Frage gestellt. Die Freiheit des Menschen ist derart bedingt, dass Karl Rahner feststellt:
"Natürlich ist vieles im Bereich der Freiheit und der persönlichen Geschichte bedingt oder mitbedingt durch das Materielle und Biologische, und zwar in einem Ausmaß, das man kaum überschätzen kann. Aber eben dass der Vollzug des Geistes, der Freiheit und der personalen Entscheidung so materiell bedingt ist, ist doch ein Problem, das mit der Feststellung dieser Bedingtheit noch nicht gelöst ist. Es soll Freiheit sein, Selbstbestimmung, unwiederholbare Einmaligkeit. Was so sein will, gerät, um so zu sein, in den anonymen Zwang des biologisch Notwendigen und allgemein Gesetzlichen, will Geist in einmaliger Freiheit sein und wird Materie unter allgemeinem Zwang." [9]
Die Entwicklung des Menschen, seine Selbstwahrnehmung und die Grenzen anthropologischen Denkens hat Karl Rahner schon relativ früh in einem seiner bekanntesten Werke prägnant formuliert:
"Er wollte ganz sich selbst entdecken und in sich die autonome Person von unantastbarer Würde - und hatte eigentlich nach aller Tiefenpsychologie und Psychotherapie und aller Existentialphilosophie und aller Anthropologie, in der sich alle Wissenschaften einfanden, um herauszubringen, was eigentlich der Mensch in seinen tiefsten Gründen und Untergründen sei, nur entdeckt, dass in den tiefsten Tiefen seines eigentlichen Wesens er eigentlich gar nicht - er sei, sondern ein unübersehbares, ungeheuerliches Chaos von allem und jedem, in dem der Mensch eigentlich nur so etwas ist wie ein sehr zufälliger Schnittpunkt dunkler, unpersönlicher Triebe…?"[10]
Angesichts dieser Diagnose stellt sich die Frage: Wer oder was bewahrt uns vor Fatalismus, vor Resignation und vor dem Absturz in Nihilismus und Banalität, die in sich gar nicht (mehr) die Kraft aufbringt, überhaupt die "großen Fragen" zu stellen. Dabei - so sagen es die alten Weisen - ist Staunen ja der Anfang aller Weisheit. Staunen und Fragen hängen sehr eng miteinander zusammen. Der Innsbrucker Dogmatiker Roman Siebenrock formuliert dies in einer ‚Kurzformel‘ so:
"Für den, der staunt, steht alles in Frage."[11]
Genau hier setzt Glaube, setzt Religion ein. Die Würde des Menschen verträgt keine letztgültige ‚Verzweckung‘. Der Mensch verliert seine Würde- und damit auch seine unveräußerlichen Rechte - wenn er nichts mehr wäre als… Nichts mehr als eine Funktion, nichts mehr als ‚Vehikel seiner Gene‘, nichts mehr als das "Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse". Um die Offenheit des Menschen, um seine Würde zu wahren, braucht der Mensch Religion. Um es mit Eugen Drewermann zu sagen:
"Wie nötig wäre Religion! Wer, wenn nicht sie könnte den Menschen sagen, dass sie mehr sind als Übergangsgebilde im Stoffwechselhaushalt der Natur, dass sie zu schade sind, um sich als Konsumenten und als Produzenten im Wirtschaftskreislauf dubioser Kapitalverwerter zu verschleißen."[12]
Menschen von heute sagen durchaus auf die Frage, ob ihnen etwas fehle, wenn sie sich als nicht - religiös bezeichnen, dass ihnen gar nichts fehle. Warum sollte ihnen etwas fehlen? Haben sie ein Defizit? Wir sollten uns als Kirche hüten, ihnen ein Defizit einreden zu wollen, denn "Gottes Geist weht, wo er will". Und wenn "Gottes Heil allen Menschen gilt", dann ist sein Heilswille ein wirksamer, der "sich keine Grenze endgültig befehlen lässt." (Karl Rahner)
Grundlegend für das rechte Verständnis von Kirche ist der allgemeine und wirksame Heilswille Gottes. Er schafft sich die Kirche als sein ‚Grundsakrament‘, d. h. Kirche ist Zeichen und Werkzeug. Ihr Sein bestimmt ihren Auftrag. Den kann man vielleicht so umschreiben: Kirche soll vermitteln und darauf verweisen, dass Gottes Liebe unendlich groß ist. Sie ist so groß, dass sie sich "keine Grenze endgültig befehlen lässt." (Karl Rahner). Dabei bleibt Kirche immer auf den Mann aus Nazareth verwiesen und mit ihm ‚untrennbar‘ verbunden, denn er ist das ‚Ursakrament‘ des Heilswillens Gottes, der nichts und niemanden ausschließt.
Was Religion, was Glaube angesichts dieses ‚Befundes‘ heute bedeuten kann, beschreibt der jüdische Theologe, Schalom Ben Chorin in seinem Buch, das sehr viele autobiografische Details enthält und den Titel trägt "Ich lebe in Jerusalem", fast am Schluss. Es ist so etwas wie ein Fazit seines Denkens:
"Die zweifache Grundfrage menschlicher Existenz ist unser Woher und Wohin. Der denkende Mensch (und eigentlich ist jeder Mensch ein denkender Mensch: >>Cogito, ergo sum<<, wie es Descartes ausdrückte) stellt sich die Frage: Woher komme ich? Wohin gehe ich?... Der zitierte Zeitgenosse Hillels fügt unserer Existenzfrage noch die der letzten ethischen Verantwortung hinzu. Auf das Woher und Wohin gibt er aber eine recht unzulängliche, erstaunlich rationalistische Antwort: >>Woher du kommst? Von einem eklen Tropfen (Sperma); und wohin du gehst? Zu einem Ort des Staubes, des Moders und des Gewürms.<< Bis dahin würde sich die Aussage des alten Schriftgelehrten von keiner atheistisch - materialistischen, biologistischen Seins - Definition unterscheiden. Nun fügt er allerdings hinzu: >> Und vor wem du einst Rechenschaft abzulegen hast? Vor dem König der Könige, dem Heiligen, gelobt sei er.<< Die Frage des Woher und Wohin lässt sich aber nicht durch eine so eingeschränkte Ontologie bewältigen, die den metaphysischen Aspekt radikal vom Biologischen trennt…Aus dem Geheimnis kommen wir, in das Geheimnis gehen wir, Geheimnis bleiben wir uns selbst…Glaube ist verlängerte Hoffnung, und Lebenskraft erhalten sie , Hoffnung und Glaube, nur von der Liebe." [13]
Die Unzulänglichkeit jeglicher materialistischen Weltdeutung wird hier unübertroffen geschildert und die letzten Worte "Glaube ist verlängerte Hoffnung, und Lebenskraft erhalten sie, Hoffnung und Glaube, nur von der Liebe" gehen nicht nur ‚unter die Haut‘. Sie sind in aller Prägnanz und Schönheit ein Glaubensbekenntnis, das von Dietrich Bonhoeffer mit seinem Lebenseinsatz verifiziert wurde. Bonhoeffer, der am 09.April 1945, wenige Tage vor Ende des II. Weltkrieges, auf persönlichen Befehl Hitlers hingerichtet wurde, fasste seinen Glauben in einer Form zusammen, die Glaube, Hoffnung und Dank zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen lässt:
"Ein Glaube, der nicht hofft, ist krank" und "Dem Dankbaren wird alles zum Geschenk, weil er weiß, dass es für ihn überhaupt kein verdientes Gut gibt." [14]
Wie also umgehen mit all den Nöten und Fragen heute? Welche Hoffnung, welchen Trost und welche Zuversicht bietet Glaube, um als Mensch menschlich bestehen zu können angesichts einer bedrängenden Wirklichkeit? Vielleicht ist eine grundsätzliche Neuorientierung erforderlich: Der Mensch ist nicht wesentlich der ‚Macher‘, denn all seine Möglichkeiten hat er sich nicht selber gegeben. Bonhoeffer verweist auf die Dimension der Dankbarkeit, die darin gründet, dass alles Leben, alles Sein, alle Möglichkeiten Geschenkcharakter haben. Aus dieser Einsicht folgt die nächste: Der Mensch versteht sich selber nur richtig aus einer "Gestimmtheit des Beters"[15] heraus. Darum wird nur der betende Mensch, der, der sich Gott überantwortet, mit all den Widersprüchen des Lebens angemessen umgehen. Nicht, indem er in einer Art "Weltformel" für alles und jeden eine ‚glatte Lösung‘ anzubieten hätte. Wohl aber in dem Sinne, dass er alle Begrenzungen, alle Nöte in Hoffnung übersteigt. Die Hoffnung ist nicht nur der ‚Stoff‘, aus dem heraus der Mensch existiert. Ohne sie würde der Mensch in einer Welt der Widersprüche und Absurditäten jeden Halt und Sinn verlieren. Darum macht es viel Sinn, bei großen Betern ‚in die Schule zu gehen‘. In seinem ersten Buch mit dem Titel "Worte ins Schweigen" - ein Gebetbuch - gibt Karl Rahner ein beredtes Zeugnis von der "Not und dem Segen des Gebetes"[16]:
"Ist das dein Kommen, haben die Menschen dazu die unermessliche Geschichte zu einem einzigen großen Adventschor gemacht - in ihm ruft ja selbst der noch, der dich lästert -, zu einem einzigen Ruf nach dir und deinem Kommen? Ist unser Unglück von uns genommen, weil auch du geweint hast? Ist die Ergebung in unsere Endlichkeit deshalb nicht mehr die schrecklichste Form unserer Verzweiflung, weil du das Wort der Ergebung in deiner Menschwerdung mitgesprochen hast?...Was nützt es mir, wenn mein Schicksal jetzt Teilnahme an deinem ist… Oder hast du mein Leben nur zum Anfang deines Kommens gemacht, zum Anfang deines Lebens?"
"Du bist noch immer im Kommen und dein Erscheinen in der Knechtsgestalt ist der Anfang deines Kommens zur Erlösung von der Knechtschaft, die du annahmst. Wege, die du gehst, haben ein Ende, Engen, in die du eingehst, werden weit… Du bist eigentlich nicht gekommen, du bist noch am Kommen."[18]
Es ist kein billiger Trost, sondern eine Zustandsbeschreibung der Situation menschlicher Existenz, wenn Rahner an anderer Stelle betet: "Ich bin der, der sich nicht selbst gehört, sondern dir. Mehr weiß ich nicht von mir, mehr nicht von dir. - Du - Gott meines Lebens, Unendlichkeit meiner Endlichkeit." [19]
Rudolf Hubert, Referent für Caritaspastoral, Caritas im Norden
[1] Reinhold Schneider "Verhüllter Tag", Freiburg-Basel-Wien 1959, S. 177
[2] Joseph Ratzinger "Einführung in das Christentum", München 1968, S. 190
[3] Karl Rahner "Grundkurs des Glaubens", Freiburg-Basel-Wien 1984, S. 58
[4] Buchtitel von Eugen Drewermann
[5] Eugen Drewermann: "Dass auch der Allerniedrigste mein Bruder sei" - Dostojewski - Dichter der Menschlichkeit, S. 53f
[6] Karl Rahner/Karl-Heinz Weger "Was sollen wir noch glauben?", Freiburg-Basel-Wien 1979, S. 63
[7] Hans Urs von Balthasar "Klarstellungen", Freiburg-Basel-Wien 1971, S. 37
[8] Hans Urs von Balthasar "Herrlichkeit", 3/ I, Einsiedeln 1965, 926 f
[9] Karl Rahner "Praxis des Glaubens", Zürich-Köln/ Freiburg-Basel-Wien 1982, S. 433
[10] Karl Rahner "Beten mit Karl Rahner", Freiburg-Basel-Wien 2004, Band 1"Von der Not und dem Segen des Gebetes", S.67 f
[11] "Der Denkweg Karl Rahners", Mainz 2003, S. 87
[12] Eugen Drewermann "Wendepunkte", Ostfildern 2014, S.9
[13] Schalom Ben Chorin "Ich lebe in Jerusalem", München 1988, S. 242-245
[14] Dietrich Bonhoeffer "Worte für jeden Tag", Gütersloh1995, S. 59
[15] Ralf Miggelbrink "Ekstatische Gottesliebe im tätigen Weltbezug", Altenberge 1989, S. 284
[16] Buchtitel von Karl Rahner
[17] Karl Rahner "Beten mit Karl Rahner", Freiburg-Basel-Wien 2004, Band II "Gebetes des Lebens", S. 167 f
[18] Karl Rahner "Beten mit Karl Rahner", Freiburg-Basel-Wien 2004, Band II "Gebetes des Lebens", S. 168
[19] Karl Rahner "Beten mit Karl Rahner", Freiburg-Basel-Wien 2004, Band II "Gebetes des Lebens", S. 27