Von der Abschaffung Gottes zur (Selbst -) Abschaffung des Menschen
Dankbar bin ich für jene Fragen, die mich diesbezüglich erreichen. Doch traurig werde ich, wenn zunehmend die Erkenntnis um sich greift: Die Welt, wie sie ist, ist mit einem Gott der Liebe, Güte und Barmherzigkeit nicht vereinbar.
Vielleicht sollten wir nicht zu schnell nach Antworten suchen. Vielleicht ist uns heute aufgetragen zu versuchen, die Fragenden und Suchenden tiefer in ihren Anliegen zu verstehen. Vielleicht ist ein gemeinsamer Weg durch Trauer, Not und Sorge die Glaubensantwort, die uns heute - auch und besonders in der Caritas - als kirchliches Zeugnis abverlangt wird. "Das Fragen zu lernen", wie es der Titel eines theologischen Jahrbuches vor 50 Jahren empfiehlt, und die Hoffnung nicht aufzugeben angesichts einer Welt, die buchstäblich aus den Fugen zu geraten scheint, ist allemal besser als jede künstliche und verkrampfte gedankliche Konstruktion oder ein Rückzug in den "Schlaf der Sicherheit", vor dem uns ein Kirchenlied warnt, wenn wir flüchten wollen in den Binnenbereich der Kirche, um abzuwarten, "bis alle Stürm vorübergeh‘n".
Papst Benedikt XVI. hat sich als Theologe Joseph Ratzinger bereits im Jahr 1991, also vor über 30 (!) Jahren dazu tiefgründige Gedanken gemacht in einem Buch, das den bezeichnenden Titel trägt: "Wendezeit für Europa".
"Die Bestreitung des Jenseits hat zunächst zu einer leidenschaftlichen Verherrlichung… der Lebensbehauptung um jeden Preis geführt. Alles muss ja in diesem Leben erreicht werden, ein anderes gibt es nicht. Die… Gier nach allen Arten von Erfüllungen wurde aufs Äußerste gesteigert. Aber alsbald ist eine ungeheure Entwertung des Lebens daraus geworden…, man wirft es weg, wenn es nicht mehr gefällt."
Ein Blick in die Geschichte der Caritas im Norden, konkret auf dem Gebiet des Landesteils Mecklenburg, kann zu diesem Sachverhalt zusätzlich Erhellendes beitragen. Die "einzig wissenschaftliche Weltanschauung", die mit Staatsmacht einst in der DDR verordnet wurde und die angeblich alles wusste und alles durchschaute - nur um am Ende nicht eine einzige wesentliche menschliche Frage zu beantworten - ist abgelöst worden. Abgelöst von einem praktischen Materialismus, der scheinbar nur jene Devise zu kennen scheint, die einst als Werbung an einer bekannten Fast-Food-Kette in großen Lettern prangte: "Ran-Satt-Weg". Ins Leben "geworfen" (Sartre), satt gemacht durch alles, was zur Verfügung steht und "entsorgt", bevor der Mensch zum Kostenfaktor wird. Die nächsten "Energie-und Stoffwechselaggregate" (Drewermann) stehen ja schon bereit.
Es rächt sich bitter für das Welt- und Menschenbild, wenn die Gottesfrage ausfällt. Extremisten, Populisten und Anhänger von Verschwörungsmythen machen uns das auf eine sehr schmerzliche Weise (wieder) bewusst, denn hinter ihren vielen Irrungen und Wirrungen steht oft eine tiefe Sehnsucht nach einer "heilen Welt". Es ist allerdings eine Sehnsucht, die von Scharlatanen aller möglichen Schattierungen skrupellos missbraucht und instrumentalisiert wird.