Es war einmal…
Und plötzlich wird es ganz still im Raum. Die Märchenerzählerin Madeleine Wehle betritt in gold-roter Robe den Raum. In der Hand hält sie eine große Kugel und schaut lächelnd in die Runde. "Es war einmal…", sagt sie mit fester Stimme und schon hängen alle an ihren Lippen. Ich auch, denn diese Worte sind mir so wohlvertraut und lassen gleichzeitig so viele schöne Erinnerungen aufkommen.
Ich höre die Worte im Alten- und Pflegeheim St. Hedwig. Das Heim liegt im beschaulichen Wittenburg, ungefähr 20 Kilometer von Schwerin entfernt. In der Einrichtung leben viele Bewohner_innen mit Demenz. Um den Alltag und das Freizeitangebot der Bewohner_innen abwechslungsreich und spannend zu gestalten, entwickeln die Leitung Yvonne Dahl und ihr Team immer wieder neue Ideen. Seit Anfang des Jahres kommt in regelmäßigen Abständen eine ausgebildete Märchenerzählerin ins Haus. Das Feedback ist von allen Seiten durchweg positiv.
Gemeinsam mit fünf Pflegemitarbeitenden und an die 20 Gästen lausche ich gespannt dem Märchen "Der Froschkönig". Es ist das erste von insgesamt drei, das Madeleine Wehle heute erzählen wird. Ich sitze ganz hinten in der letzten Reihe und doch fühlt es sich an, als wäre ich mittendrin in der Geschichte. Das geht den meisten im Raum so, denn ich höre immer wieder "Ohs" und "Ahs", während die Märchenerzählerin spricht.
Viele der Zuhörenden sitzen im Rollstuhl, haben mal gute und mal schlechte Tage mit ihrer Demenzerkrankung. Woran sie sich aber alle erinnern, sind die Märchen von früher mit den ihnen so bekannten Held_innen und vertrauten Sätzen. Dieses Erinnern ist eine schöne Abwechslung neben dem Krankheitsalltag. Es ist einfach rührend zu erleben, wie begeistert alle mitfiebern.
Noch schöner wird es im zweiten Märchen. Madeleine Wehle erzählt jetzt "Vom Fischer und seiner Frau". Darin schickt die Frau ihren Mann immer wieder zum Wasser heraus, um nach noch mehr Geschenken für sie zu bitten. Dabei sagt der Fischer die flehenden Worte: "Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See, myne Fru de Ilsebill will nich so, as ik wol will." Und während es im Märchen mit jeder Bitte des Fischers düsterer und stürmischer zugeht, wird der Raum in St. Hedwig heller und heller. Fast einstimmig sprechen die Zuhörenden den Satz schließlich mit. Sie erinnern sich an jedes einzelne Wort. Am Anfang sind sie noch zaghaft, aber mit jedem Wunsch werden sie stimmgewaltiger. Diesen besonderen Moment zu erleben, ist schwer in Worte zu fassen. Ich sehe die Begeisterung in den Augen der Leute, die Freude unter dem Pflegepersonal und auch die Rührung der Märchenerzählerin selbst. Ein kleines Lichtlein wurde bei den Bewohnern von St. Hedwig angezündet, durch eine Geschichte, die schon seit so vielen Jahren in den Kinderzimmern erzählt und vorgelesen wird.
Das dritte Märchen ist Rapunzel. Als Kind ist es eines meiner persönlichen Lieblingsbücher gewesen. Nicht nur wegen den schönen langen Haaren von Rapunzel, sondern auch wegen des Prinzen, der trotz seiner Erblindung alles gibt, um sie wiederzufinden. Es wird gekämpft, gelitten und am Ende siegt das Gute. Und wieder fiebern alle mit im Raum.
Eine Stunde lang erzählt uns Madeleine Wehle Märchen, die wir bestimmt hundertmal gehört haben. Sie haben dennoch nichts an Strahlkraft verloren. Ein ganz besonders lieber Dank geht daher an die wunderbare Märchenerzählerin. Madeleine Wehle macht diese schöne Arbeit ehrenamtlich und besucht Schulen und Pflegeeinrichtungen unterschiedlichster Art. Es war einfach wunderbar, ihr zuzuhören und zu sehen, welche Freude sie damit verbreitet.