Leben im ‚Provisorium‘ – Die Zeichen der Zeit erkennen
Doch es scheint mir auch im Sinne des Verstorbenen zu sein, wenn wir nicht nur einen Rückblick wagen. Vielmehr scheint es mir in seinem Sinn zu sein, eine kleine Überlegung anzustellen, die theologisch geeignet scheint, ein wenig ‚gegen den Strich zu bürsten‘. Denn eines hat Weihbischof Norbert uns gelehrt: Die Zeichen der Zeit - und zwar rechtzeitig - zu erkennen!
Ich möchte meine kleine Betrachtung mit einer Beobachtung beginnen. Im DOMRADIO.DE ist zum Tode von Weihbischof em. Norbert Werbs zu lesen, ich zitiere:
"Dann ernannte Papst Johannes Paul II. ihn 1981 zum Weihbischof im damaligen Bischöflichen Amt Schwerin, einem zu DDR-Zeiten geschaffenen, provisorischen kirchlichen Verwaltungsbereich. Nach dem Tod von Bischof Theodor Hubrich leitete er dieses Kirchengebiet ab 1992 übergangsweise als Diözesanadministrator."
Soweit das Zitat aus DOMRADIO.DE. Man wird zunächst schlicht feststellen, dass sachlich-inhaltlich daran nichts auszusetzen ist. Doch ein zweiter Blick kann manches heute in der Kirche in Deutschland verständlich(er) machen.
Kirche in der DDR - ein Provisorium?
Ich beginne mit einer kleinen Bemerkung die fast nebensächlich zu sein scheint: "einem zu DDR-Zeiten geschaffenen, provisorischen kirchlichen Verwaltungsbereich." So heißt es ohne jede Wertung und Erläuterung. Doch könnte es sein, dass das Charakteristikum des Provisoriums bei der Beurteilung kirchlicher Vorgänge weit über den Verwaltungsbereich hinausgegriffen hat und hinausgreift? Denn mir scheint, dass das, was die Kirche in der DDR, also unter ganz konkreten, realen gesellschaftlichen Bedingungen, an Erfahrungen gesammelt hat - Erfahrungen, die man so in der Demokratie gar nicht machen konnte - heute wie auch in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich häufig auch nur als Provisorium angesehen wurde.
Ich möchte nicht ‚orakeln‘, sondern nur auf einige kleine Wahrnehmungen aufmerksam machen, die allesamt natürlich subjektiv ‚gefärbt‘ sind. Wie sollte es auch anders sein?
- Gab es im ‚Westen‘ einen Lehrstuhl, in dem die Auseinandersetzung mit dem dialektischen und historischen Materialismus - die es selbstverständlich an der einzigen katholischen Fakultät der DDR in Erfurt gab- weitergeführt wurde?
- Heute hat die ideologische Absage an die Religion mit Namen dialektischer und historischer Materialismus nur andere, schillerndere Namen wie Positivismus, Neopositivismus. Die Seelsorger in der DDR hatten sehr wohl Antworten parat, die sie den Gläubigen an die Hand gaben, die sich im Alltag mit der "einzig wissenschaftlichen Weltanschauung" herum zu plagen hatten. Diese Antworten scheinen mir heute noch zu tragen, wenn behauptet wird - und zwar unter großem medialen Aufwand - dass der Glaube an Gott womöglich doch nur ein einziger ‚Gotteswahn‘ ist. Dass Glaube nur etwas ist, das allerhöchstens der Spezies Homo Sapiens einen ‚Überlebensvorteil‘ sichern kann im evolutiven Konkurrenzkampf. Und das ‚Ich‘- gerne wird es heute so kommuniziert - sei doch in Wirklichkeit nur ein Selbstorganisationsinstrument. "Vom Gehirn für’ s Gehirn. "Selbstorganisation der Materie" wurde in den Schulen der DDR gelehrt und gelernt, den Ausdruck "Vehikel der Gene" - hätte man ihn gekannt, hätte man ihn sich nur allzu gern zu eigen gemacht. Was soll das also mit ‚Freiheit‘, mit ‚Gott‘? Alles ist doch nur Illusion, Täuschung, Einbildung. Das klingt dem sehr vertraut, was in kommunistischem Schulbetrieb gelehrt wurde. Und womit sich die Kirchen seinerzeit sehr verantwortlich auseinandergesetzt haben. Hat man sich je die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung wirklich genügend zu eigen gemacht?
- Ich glaube, die Analyse wird nicht sehr ergiebig sein. Für Christen in der DDR war klar: Ohne Opfer geht es nicht. Und einem Lebenskonzept unter kommunistischen Bedingungen kann nur ein alternatives entgegengesetzt werden. Diese Alternative braucht ein starkes Fundament. Darum war es der Kirche unter sozialistischen Bedingungen und ihrer Glaubensverkündigung zu tun, bei allen Schwierigkeiten, die eine Gettomentalität mit sich brachte. Und darum war in Person von Seelsorgehelferinnen und Katecheten ein gutes, ein ausreichendes personales, pastorales Angebot vor Ort vorhanden. Strukturfragen sind wichtig. Wichtiger waren (und sind!) Fragen, in denen es um das ganz konkrete Leben des Glaubens vor Ort geht, um das, was Glaubensvollzüge fördert und was sie hemmt. (Stichwort: Mystagogische Pastoral)
- Wie sieht ein kirchliches Konzept für das Leben im ‚real existierenden Kapitalismus‘ aus? Und warum hat der Pastorale Orientierungsrahmen unseres Erzbistums Hamburg ähnliche Schwierigkeiten wie "Salz im Norden" oder die "Leitlinien für die pastoralen Räume" im Erzbistum Hamburg? Kann es sein, dass es Mentalitätsunterschiede gibt mit eigenen ‚Trägheitsmomenten‘? (Stichwort: ‚Sahnehäubchen‘ und Verfeierlichung familiärer Feste?)
- Wo hat man im ‚Strukturwandel‘ der Kirche auf die Erfahrungen der Kirche unter diktatorischen Bedingungen explizit Bezug genommen und die Frage gestellt: Was heißt das für uns heute? Was können, was sollten wir daraus lernen? Die Seelsorge, beispielsweise auf den ‚Außenstationen‘, war Ergebnis pastoraler Überlegungen, wie Verkündigung und Glaubensleben auch unter extremen Diasporasituationen umgesetzt werden kann. Gab bzw. gibt es überhaupt ein Interesse an kirchlichem Leben unter Bedingungen einer kommunistischen Diktatur? Und hat man sich darüber hinaus gefragt, wie es unter demokratischen gesellschaftlichen Bedingungen mit kirchlichen Vollzügen ‚bestellt ist‘? Hat man im ‚Westen‘ hinreichend zur Kenntnis genommen, dass im ‚Osten‘ gelernt wurde, kirchliches Leben unter diversen Einschränkungen zu organisieren? Über die ‚Würzburger Synode‘ wurde und wird z. T. viel nachgedacht und beraten. Ähnliches ist mir über die Dokumente der Dresdner Pastoralsynode nicht bekannt.
- Die Beispiele ließen sich beliebig verlängern, der Raum reicht nicht, um darüber zu reflektieren, warum aus Seelsorgehelferinnen Gemeinde- oder Pastoralreferenten wurden, warum Diakonatshelfer umbenannt wurden zu Gottesdienstbeauftragten oder warum Wortgottesfeiern mit der Spendung der Hl. Kommunion die Ausnahme bilden sollen, obwohl diese Wortgottesfeiern immer einen unmittelbaren Bezug zur sonntäglichen Eucharistie hatten bzw. haben. Nur am Rande sei vermerkt: Die ‚bewährten Männer‘ (und Frauen!) kannte man unter diesen Umständen sehr genau. Und - bei allem Respekt vor dem Weihesakrament - In vielen Bereichen kirchlichen Lebens war eine ‚priesterzentrierte Perspektive‘ gar nicht gegeben, alleine deshalb nicht, weil sie nicht möglich war. Ich denke an eigene Erfahrungen in der ‚Messdienerausbildung‘, an Gruppenleiterschulungen in katholischen Jugendhäusern, an theologische Fernkurse usw. Hätten wir nicht allen Grund, hier doch noch einmal genauer hinzuschauen, wie unter diesen Konditionen Glauben gelebt und weitergeben wurde?
Eine nostalgische Rückbesinnung ist sowohl unangemessen als auch irreführend, wenn wir die "Zeichen der Zeit" recht verstehen wollen. Mir geht es deshalb in meinen Überlegungen nur um einen kleinen Fingerzeig, ob wir mit dem Wort Provisorium vielleicht dann zu unbedacht umgehen, wenn wir mit dieser ‚Etikettierung‘ u. U. Gefahr laufen, wertvolle gesellschaftliche und geschichtliche Erfahrungen kirchlichen Lebens nicht hinreichend im Blick zu behalten. Die Zeichen der Zeit erkennen heißt auch, gesellschaftliche Entwicklungen und deren Auswirkungen auf das Leben der Kirche hinreichend zur Kenntnis zu nehmen und entsprechende Lehren zu berücksichtigen. Das Leben der Christen in der DDR wurde und wird als Glaubenszeugnis heute und morgen für den Weg der Kirche in Deutschland fruchtbar sein - weil es kein Provisorium war.
Rudolf Hubert
Schwerin, den 05.01.2023