c/o Erzbischöfliches Amt
Lankower Straße 14-16
19051 Schwerin
Die Deutung des eigenen Lebens gelingt nicht im einsamen Für-Sich-Sein, sondern vorrangig durch Mitwirkung bzw. Teilhabe haupt- und ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am gesellschaftlichen Leben. In welcher Welt finden wir uns vor? Braucht diese ‚Welt‘ unser Glaubenszeugnis überhaupt zum gelingenden Leben? Wer diese Frage als selbstverständlich und mit einem raschen ‚Na klar‘ beantwortet, handelt vielleicht doch etwas voreilig. Denn viel zu oft erleben wir heute, dass die ‚Welt‘ ganz gut ohne (unseren) kirchlichen Deutungsrahmen zurechtkommt. Wir sollten bei all unseren Bemühungen den Hinweis Karl Rahners vor über 50 Jahren sehr ernst nehmen:
"Wir haben zuerst und zuletzt dem Menschen von heute vom innersten, seligen, befreienden, aus Angst und Selbstentfremdung erlösenden Geheimnis seines Daseins zu künden, das wir ‚Gott‘ nennen…Wo der Mensch die Erfahrung Gottes und seines aus der tiefsten Lebensangst und der Schuld befreienden Geistes auch anfanghaft nicht gemacht hat, brauchen wir ihm die sittlichen Normen des Christentums nicht zu verkündigen. Er könnte sie ja doch nicht verstehen…"[1]
Im Fokus unserer Projekte stehen darum nicht zuerst und nicht zuletzt die Bereitschaft und die Fähigkeit zu helfen. Hilfe zu geben, wo sie erforderlich ist, ist selbstverständlich! Im Fokus unserer Projekte stehen die Bereitschaft und der Wunsch zur Begegnung ‚auf Augenhöhe‘. Wir wollen und dürfen niemanden ‚kirchlich domestizieren‘. Erst recht können (und darum brauchen wir es auch nicht!) wir Gott zu den Menschen bringen. ER ist doch längst da! Und zwar bei jeder und jedem, zumindest als Sehnsucht, als Klage oder als Hoffnung, die "sich keine Grenze endgültig befehlen lässt." (Karl Rahner) Selbstverständlich wollen wir mithelfen und mitgestalten, gemeinsam den Weg des Lebens so zu gehen, dass wirklich einer den anderen stützt und hält. Dass niemand allein ist oder zurückbleibt. Das kann eine Bewohnerin oder ein Bewohner in einer Senioreneinrichtung sein, das kann im Nachbarschaftstreff geschehen oder im Miteinander von Einheimischen und Menschen mit Migrationshintergrund.
Wir versuchen konkret, in Gemeinden und im Gemeinwesen, im engen Verbund mit Verbänden und Initiativen, Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene und Hochbetagte in den Blick zu nehmen und im Blick zu behalten. Überall, wo Menschen in unserer Umgebung einsam sind, wollen wir durch Sensibilität, durch Projekte und Ideen mithelfen, dass mehr Gemeinsamkeit entsteht. Konkrete Projekte der Begegnung sind u.a. bereits entstanden im interreligiösen Dialog und im christlich-jüdischen Gesprächsforum, im Bereich der Suizidprävention und der Telefonseelsorge, im Ehrenamt und im Bereich der neuen Medien. Gerade hier wurden ganz neue Möglichkeiten der Kommunikation erschlossen, die vorher nicht einmal geahnt werden konnten und die geeignet scheinen, Partizipation, also Teilhabe, auch bei älteren Menschen, auch in sozialen Einrichtungen, zu ermöglichen und zu gewährleisten. In den Projekten der Jugend - und Straßensozialarbeit werden neue Wege der Begegnung beschritten, weil heutige Kommunikationsformen diese erfordern und zugleich ermöglichen. Bei all dem sind Fortbildung und Interaktion zwischen den verschiedenen Aufgabenprofilen und deren Akteuren ein einziger großer Begegnungsraum mit vielen Chancen.
Hinter unserer Idee, die nach wie vor ‚ausbaufähig‘ ist im Erzbistum Hamburg, steht nicht nur eine Philosophie der Chancen und Charismen. Vor allem steht dahinter eine Haltung. Ich möchte sie vielleicht so umschreiben:
Wir können nicht alles, aber jeder kann etwas. Darum kann und soll sich jede und jeder mit den Gaben einbringen, die ihm zur Verfügung stehen und die ihn ausmachen. So entsteht ein buntes Netzwerk des Für-und Miteinanders. "Das Leben ist Gottes Ziel mit uns" - so sagt es Dietrich Bonhoeffer. Und Romano Guardini gibt uns mit auf den Weg des Lebens und Glaubens: "Der Mensch ist eine Sprache, in die Gott übersetzt werden kann." Daran mitwirken zu dürfen, ist Berufung und ermöglicht tragenden Lebenssinn, der weit über Funktionalität und Zweckrationalismus hinausreicht.
Nochmals abschließend die Frage: In welcher Welt findet sich die Kirche heute vor, wie ist der ‚Ort‘ beschaffen, in dem sie die Botschaft vom ‚Heil‘ bezeugen soll? Wir leben in keiner ‚gottlosen‘ Welt. Weil ER allen Menschen nahe sein will und allen nahe ist! Wohl aber leben wir in einer Welt, die das Zeugnis derer braucht, die den Menschen auch sehen und sensibel wahrnehmen als jemand, der mit einer unendlichen Würde begabt ist.
Und die ihm dies glaubwürdig vermitteln! Gerade in den zwischenmenschlichen Beziehungen und Begegnungen wird der Mensch seiner Würde und Berufung, ‚mehr Leben zu wagen‘ , bewusst.
Lassen wir uns abschließend von einem Denker unserer Tage gewissermaßen ‚an die Hand nehmen‘, um diese Berufung zu gegenseitigem Lernen und Lehren, zur Ermutigung zum ‚Leben in Fülle‘ zu erspüren:
"WIE NÖTIG WÄRE RELIGION! Wer, wenn nicht sie, könnte den Menschen sagen, dass sie mehr sind als Übergangsgebilde im Stoffwechselhaushalt der Natur, dass sie zu schade sind, um sich als Konsumenten und als Produzenten im Wirtschaftskreislauf dubioser Kapitalverwerter zu verschleißen… Auf das Menschen eine absolute Geltung haben, bedarf es eines absoluten Gegenübers ihrer Anerkennung. Ein solches Gegenüber kann und darf nicht die Natur, nicht die Gesellschaft, nicht ein Zweckverband aus Industrie und Militär und Banken sein."[3]
"An der Stelle wird Religion nötig, indem sie die Liebe zum Verstehenshorizont unserer Existenz erklärt, etwas, das in der ganzen Natur so nicht vorkommt. Darum greifen wir religiös über die ganze Natur hinweg. Alle Religion besteht darin, das Ungenügen an der Natur mit etwas aufzulösen, aus dem alles Dasein, die ganze Natur selber, ihre Ableitung und ihre Berechtigung erfährt"[4]
"Deshalb brauchen wir die Religion. Sie hilft uns nicht, die Natur nach Menschenmaßstab zu begreifen, doch sie ist die wichtigste Grundlage, selber Mensch zu werden und uns als Menschen durchzuhalten."[5]
Rudolf Hubert
[1] Karl Rahner "Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance", Freiburg-Basel-Wien 1972, S. 72
[2] Das gilt im Übrigen nicht nur für uns Menschen. Das gilt für die gesamte Schöpfung, die ihren Wert daraus bezieht, dass sie SEINE Schöpfung ist. Sie ist, weil ER will, dass sie ist. Und - sicherlich sehr gestuft - ist darin, also in der Beziehung Schöpfung-Schöpfer, auch der Eigenwert all dessen zu sehen und zu würdigen, was wir als Umwelt betrachten bzw. bezeichnen. Darum sind Klimawandel und Artensterben aus gläubiger Perspektive auch ein nicht hinzunehmender Skandal!
[3] Aus Eugen Drewermann "Wendepunkte", 9 f
[4] Aus Eugen Drewermann "Wir glauben, weil wir lieben" ,160)
[5] Aus Eugen Drewermann "Wir glauben, weil wir lieben" ,176)