Ein Mensch sucht einen anderen Menschen
"Entschuldigung - es ist gar nicht so wichtig und ich möchte auch nicht stören…" Nicht wenige der zwei Millionen Anrufe, die die Telefonseelsorge in Deutschland im Jahr annehmen kann, beginnen so oder ähnlich. Doch was sich dann meist schon in den nächsten Minuten vor dem ehrenamtlichen Zuhörenden ausbreitet, ist alles andere als belanglos. Es sind Menschen in seelischer Not, einsam, verängstigt, verletzt, verzweifelt, vom Leben müde, die ihre schwache Hoffnung in das Zahlenfeld ihres Telefons eingetippt haben.
Zeit, Mitgefühl und Verständnis schenken
Es werden wohl über tausend solcher Gespräche sein, die ich in den nun fünf Jahren in der Dienststelle der Katholischen Telefonseelsorge in Hamburg geführt habe. Und jedes Mal sucht ein Mensch einen anderen, der ihm sein Ohr, etwas Zeit, Mitgefühl und Verständnis schenkt. Dabei sind die Themen und Herausforderungen so unterschiedlich und vielfältig wie wir Menschen selbst. Da ist der alte Mann im Pflegeheim, der keinen Besuch mehr erhält und sich dem Geschrei seiner Mitbewohner hilflos ausgesetzt sieht. Eine Frau mittleren Alters, früh verrentet, weil sie den erlittenen Missbrauch in ihrer Herkunftsfamilie nie richtig verarbeitet und überwunden hat. Eine andere, schon im siebten Lebensjahrzehnt, die sich immer noch nicht aus der Umklammerung der eigenen Mutter befreien kann. Der 19-Jährige, der Zeit seines jungen Lebens hinter der elterlichen Widmung für den behinderten Bruder zurücksteht. Mobbing auf der Arbeit, eine zerbrochene Partnerschaft, die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen, der ungestillte Hunger nach Nähe und Zärtlichkeit.
Kaum zu glauben, dass bei solchen Themen der Lohn dieser unvergüteten Arbeit Freude und die sichere Erkenntnis sind, an der richtigen Stelle zu sein. Kaum zu glauben, dass zwei anonym bleibende Unbekannte sich wahrhaft begegnen und manchmal sogar miteinander lachen können. Nicht jedes Gespräch gelingt. Doch stets trete ich den Heimweg in der Gewissheit an, dass sich der Einsatz gelohnt hat, für manche Anruferin, für manchen Anrufer und für mich. Denn nichts will mir sinnvoller erscheinen als das Gefühl, geholfen zu haben.
Die oft vermuteten spektakulären Fälle kommen, wenn auch selten, ebenfalls vor: die akute Panikattacke, die Gewaltankündigung, der vermeintlich letzte Anruf vor dem Suizid. Und es war ja auch der Freitod einer 15-Jährigen Britin, die Pfarrer Chat Varah 1952 motivierte, die Telefonseelsorge ins Leben zu rufen. Die Heranwachsende glaubte, sterbenskrank zu sein, doch dabei reifte sie nur zur Frau.
Für einige ist die Telefonseelsorge auch ein bescheidener Familienersatz. Sie rufen immer wieder an und den einen oder die andere erkenne ich schon an der Stimme. Dies mag sich nicht mit der Idee eines Kriseninterventionsangebots vertragen, doch ist die Einsamkeit in unserer Gesellschaft nicht schon längst eine unerträglich große Krise?
Den Menschen in den Vordergrund stellen
Träger der 104 Dienststellen der Telefonseelsorge mit etwa 7.700 gut ausgebildeten Ehrenamtlichen und knapp 300 festangestellten Mitarbeitenden sind im Land die evangelische und katholische Kirche bzw. die Diakonie und die Caritas. Die Katholische Telefonseelsorge in Hamburg gibt es seit zehn Jahren. 63 Ehrenamtliche sind dort zurzeit am Telefon aktiv. Neue Ehrenamtliche werden immer gesucht.
Religion und Glaube spielen nur selten eine vorrangige Rolle. Und auch bei den Anrufenden wie den Telefonseelsorgerinnen und Telefonseelsorgern scheint sich unsere Gesellschaft zu spiegeln. Alle sozialen Gruppen und Schichten finden sich auf beiden Seiten der Leitung wieder. Aber dennoch: Manchmal taucht zum Gesprächsende unvermittelt der Wunsch nach einem Gebet auf. Und dann beten wir gemeinsam!
In meinem Beruf war ich im mittleren Management angesiedelt und habe mich daher intensiv mit Führungsfragen befasst. Dabei wurde mir schnell klar, dass der ganze Mensch am Arbeitsplatz erscheint, mit seinen Fähigkeiten, mit seinen Begrenzungen, mit seinen privaten Sorgen und Nöten. Wer das versteht, stellt zunächst den Menschen und nicht das Sachthema in den Vordergrund; wer das nicht versteht, sollte keine Führungsaufgabe übernehmen.
Nach meinen Erfahrungen in der beruflichen Rolle schien mir eine Mitarbeit bei der Telefonseelsorge nur folgerichtig. Doch das Mitgebrachte genügte nicht. Zunächst galt es, sich über ein Jahr lang an zahlreichen Wochenenden und Abenden durch den Erwerb von psychologischem Grundwissen zu qualifizieren, sich selbst tief zu reflektieren und sich wie der Einrichtungsleitung die Frage der Eignung positiv zu beantworten. Und natürlich müssen Wissen, innere Stabilität, Einfühlungsvermögen, Geduld und die Fähigkeit, sich abgrenzen zu können, fit gehalten werden. Dafür wird der Dienst am Telefon durch regelmäßige Pflichtteilnahme an einer Supervisionsgruppe, kollegialem Mentoring und weiteren Lehrgängen flankiert. So sind wir gut ausgestattet und auch zur eigenen Seele achtsam, wenn wir am Tage oder in der Nacht unseren Dienst antreten.
Manchmal erinnern mich die Anrufenden an einen Traum, von dem ich einst in einer Erzählung las. Ein Rebhuhn hatte sich in einer Schlinge verfangen. So sehr es sich auch mühte, flatterte, die Fessel zog sich immer enger um den Hals. Erschöpft, aber vor Angst auf Äußerste angespannt, lag das Tier in seiner Falle. Wie nun der Kreatur helfen? Ein beherztes Zugehen und Zupacken kann nur zum Herztod oder Strangulation führen. Es geht allein in zaghaften, kleinen Schritten, in denen Beruhigung und Vertrauen wachsen dürfen, Annäherung und erste Berührungen zugelassen werden. Erst dann kann die Schlinge gelockert und begonnen werden, für die Lüfte zu befreien. Manchmal gelingt ein solch kleiner Schritt am Telefon - und ein Stück Himmel wird sichtbar.
Maria Burkhard, Ehrenamtliche Mitarbeiterin der Telefonseelsorge Hamburg