Wie geht das, glauben?
Und vor allem: Wie sagst du es jemandem, der mit all dem, also Gott, Kirche, Jesus nicht nur nichts (mehr) anfangen kann? Wie sagst du es jemandem, der davon überhaupt nichts gehört hat oder nur etwas, was kaum ernsthaft damit zu tun hat?" Mein kleiner Antwortversuch ist ein Zeugnis dessen, was ich großen Glaubenszeugen verdanke.
I.
Es gibt fast keine traditionellen Stützen mehr, an die wir anknüpfen können mit der Botschaft des Glaubens - wie traditionelle Kindertaufe oder religiöse Feste oder der Gottesdienstbesuch. Das ist in unserer fast völlig säkularisierten Welt drastisch erfahrbar. Wo ist der "Anknüpfungspunkt", wo soll man ansetzen, um die Menschen im Hier und Heute zu erreichen mit der Glaubensbotschaft? Das Entscheidende für ein Glaubensgespräch scheint zunächst zu sein, dass man den Anderen ganz ernst nimmt. In seinen Freuden und Hoffnungen, in seiner Sehnsucht und vor allem auch in seinem Leid und in seiner Not.
Folgender Zusammenhang scheint mir wichtig: Nur der religiöse Mensch kann eigentlich das Leid wirklich ernst nehmen. Karl Rahner hat es sinngemäß einmal so gesagt: Ein konsequenter Atheist hat eigentlich von seiner Warte aus kein "Recht", das Leid, die Not, die Schrecken der Welt sonderlich ernst zu nehmen. Weil für den, für den Gott nicht existiert, für den die Welt aus Chaos, Zufall, "blinder" Evolution, besteht, eigentlich ALLES ist. Darum können die größten Katastrophen und Absurditäten letztlich nur "Reibungserscheinungen" dieser Welt sein. Es gibt ja nichts Anderes.
II.
Doch die Frage stellt sich: Kann der Mensch so überhaupt leben? Und - jetzt kommt das eigentlich Entscheidende - leben Menschen überhaupt so? Viele Menschen leben eben gerade nicht so, wie ein konsequenter Atheist eigentlich nach seiner Theorie leben müsste! Darauf weist Karl Rahner in seiner Theologie immer wieder hin! Wenn man sie wohlwollend betrachtet, kann man - so Karl Rahner - oft entdecken, dass die Menschen, auch wenn sie sich atheistisch oder agnostizistisch interpretieren, oft doch glauben: nämlich im Letzten an Wahrheit und Gerechtigkeit, an Sinn und Freiheit, die keine Willkür ist. Menschen haben im Allerletzten doch Hoffnung und Sehnsucht. Ja, man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, dass die Verzweiflung oder die "stille Resignation" in sich gar nicht (verständlich) wären ohne das - oft implizite - Eingeständnis des Wunsches, dass es doch anders, besser sein möge.
III.
Ein Beispiel aus eigenem Erleben: Der Tod einer Frau nach einem längeren Krebsleiden. Sie wurde erzogen in "Kaderschulen" der SED, ihr Mann ebenfalls. In Ausschüssen der Politik war sie nach der gesellschaftlichen Wende 1989 engagiert, besonders in sozialen Fragen. So kam es zu einer größeren Nähe mit Mitarbeitenden der Caritas, bis hin zu freundschaftlichen Beziehungen. Ein Mitarbeiter der Caritas schrieb dem Witwer anlässlich der Beerdigung einen Brief:
"Lieber N., Du hast jetzt einen großen Verlust erlitten. Deine liebe Frau M. ist von Dir gegangen. Wir, als Christen, sagen, dass sie heimgegangen ist. Ja, ich weiß, Du glaubst nicht daran. Aber ich möchte Dir trotzdem sagen, woran ich glaube. Denn daraus ergibt sich für mich auch Hoffnung für unsere liebe M. Ich denke, alles, was M. Gutes getan hat, wo sie helfen wollte, wo sie sich für andere Menschen einsetzte, all das ist nicht verloren. Ich glaube daran, dass das alles irgendwie ganz gemacht, heil gemacht wird, sagen wird dazu. Übrigens auch unsere liebe M. Denk‘ doch einmal, wie sehr sie sich wünschte, noch bei Dir zu sein, was sie für Träume hatte. All das ist doch nicht einfach nichts. Ich lasse mir von niemandem einreden, dass ich glaube, dass von M. und von all ihrem guten Tun gar nichts bleibt? Wer will mich davon überzeugen? Warum soll ich die totale Hoffnungslosigkeit der Hoffnung vorziehen? Nein, mein Glaube ist für mich, und damit auch für Dich, für M. eine Option fürs Leben. Mehr als hoffen kann ich nicht. Aber das tue ich, weil Hoffnung und Liebe nicht auseinander zu reißen sind. ‚Wir glauben, weil wir lieben‘1, hat Eugen Drewermann einmal gesagt."
Der Kontakt zwischen diesem Mitarbeiter der Caritas und dem Witwer hält bis heute.
IV.
Wo Sehnsucht ist, gibt es auch Raum für den Glauben. Kann man sagen, dass die Sehnsucht vielen Menschen abhandengekommen ist? Dort, wo die Bedürfnisse befriedigt sind und alles klar ist, übersichtlich und geregelt?
"Das ist in der Tat die vielleicht größte Gefahr für den Glauben, der so genannte "praktische Materialismus". Wenn der Mensch die Frage nach sich selbst vergessen hat, fragt er auch nicht mehr nach Gott. Alles ist in Betrieb, aber dieser funktionierende "Betrieb" ist dann - um ein sprechendes Bild Karl Rahners zu benutzen - nicht viel mehr als ein "findiger Termitenstaat". Das ist der eigentliche, der "geistige Tod" des Menschen. Es ist die Aufgabe der Christen, die Frage nach dem Menschen immer wieder offen zu halten.
"Du hast mich ergriffen, nicht ich habe dich ‚begriffen‘" - so lautet ein sehr frühes Gebetswort Karl Rahners. Und weiter: "Du hast mein Sein von seinen letzten Wurzeln und Ursprüngen her umgestaltet."2
Gott handelt zuerst an uns. Und wir dürfen, weil wir keine Marionetten sind, sondern die Freiheit haben, Gott (wieder) zu lieben, mittun, in SEINE Liebe einstimmen.
V.
"Wie nötig wäre Religion! Wer, wenn nicht sie, könnte den Menschen sagen, dass sie mehr sind als Übergangsgebilde im Stoffwechselhaushalt der Natur… Auf dass Menschen eine absolute Geltung haben, bedarf es eines absoluten Gegenübers ihrer Anerkennung."3
"Viele Eltern gibt es heute, die schon lange ihre Kinder keine Gebete zum Einschlafen mehr lehren; sie sitzen des Abends an ihrem Bett, erzählen ihnen noch eine kleine Geschichte, streicheln ihnen über den Kopf und flüstern ihnen ins Ohr: ‚Hab keine Angst; ich bin bei dir‘. Sie denken nicht daran, dieses Streicheln wie ein verstohlenes Segnen und ihre Gute-Nacht-Geschichte wie ein Gebet und ihre Worte zum Abschied wie ein Bekenntnis zu Gott zu verstehen; und doch handelt es sich genau darum. Kein Vater, keine Mutter kann das Versprechen wirklich erfüllen: ‚Ich bleibe ja bei dir‘ - noch heute Nacht kann der Tod sie ereilen. Alles, was wir aus Liebe einander versprechen und woran wir in Liebe zueinander glauben, ist unendlich viel mehr als das, was wir wirklich zu halten vermögen. Und gerade dieses unendliche Viel-Mehr der Liebe nennen wir Gott… Damit die Liebe nicht scheitert, glauben wir, dass er vor allem auch dort ist und sein muss, wohin wir einander trotz all unserer Liebe doch nicht begleiten können. Die Kraft, die dort ist, wo wir zu schwach sind zu sein, die ist uns Gott."4
Drewermann zieht aus diesem "Befund" die klare Konsequenz:
"Wie nötig wäre Religion!"
Es ist heute mehr denn je erforderlich, dass das, was mit Gnade gemeint ist, neu erschlossen wird. Denn: Was braucht der Mensch heute denn dringender als dieses Wissen und diese tiefe Erfahrung der Annahme und Geborgenheit über alle Barrieren hinweg? Ansonsten bleiben doch nur "Strukturen des Bösen", weil mehr als offensichtlich ist: "Leben gibt es nur im Glauben."5
1 Eugen Drewermann "Wir glauben, weil wir lieben" - Woran ich glaube, Ostfildern 2010
2 Karl Rahner "Gott der Erkenntnis", SW 7, S. 15
3 Eugen Drewermann "Wendepunkte", Ostfildern 2014, S. 9
4 Eugen Drewermann "Der sechste Tag"-Zürich-Düsseldorf 1998, S. 391 f
5 Aus Eugen Drewermann "Strukturen des Bösen" I-III, Paderborn 1977/78