Liebe ist stärker als der Tod
Kraft, Freude, Gesundheit und Schönheit - all das macht das Leben lebenswert. Und nur ungern lassen wir uns in der Hochstimmung des Lebens daran erinnern, dass quasi nebenan Krieg herrscht, dass Menschen in Not sind und dass unsere Umwelt leidet.
Dabei könnte das christliche Verständnis von Ostern uns heute eine Menge sagen. Beispielsweise, dass vor der "Auferstehung" das Leiden Jesu stattfand. Oder dass jenen, die Jesu Auferstehung feierten, zunächst gar nicht zum Feiern zumute war. Eher zum Heulen, denn sie waren verängstigt, verunsichert und konnten anfangs gar nicht glauben, was ihnen die Frauen berichteten, die am Grab einem Engel oder dem Auferstandenen selbst begegnet waren. Die Osterbotschaft war tatsächlich so unglaublich und überwältigend, dass sie der mutigen Frauen bedurfte, die den verängstigten Männern Mut machten, endlich ihrer Angst Einhalt zu gebieten und ihrer Hoffnung zu trauen.
Angesichts der Osterfreude fällt mir die Geschichte vom "klugen Lehrer" ein, der vor der Klasse stand mit einem Glas, gefüllt bis an den Rand mit Tennisbällen und der seine Schüler fragte, ob das Glas nun voll sei oder nicht. Die Schüler, die sahen, dass kein Tennisball mehr im Glas Platz fand, meinten, dass Glas sei nun wirklich voll. Der Lehrer ließ feinen Sand in das Glas rieseln, der alle Ritzen und Leerräume ausfüllte. Die Schüler waren erstaunt über diesen "Trick", der ja in Wirklichkeit kein Trick war, sondern zeigte, dass uns der Augenschein mitunter einen Streich spielt. "Nun ist das Glas aber voll" meinte einer der Schüler, der sich gern als Klassenprimus feiern ließ. Der "kluge Lehrer" fragte die anderen Schülerinnen und Schüler, die natürlich nicht schlechter sein wollten als der Klassenbeste und sagten: "Ja, nun ist das Glas endgültig voll." Darauf goss der Lehrer Wasser ins Glas hinein, das sofort vom Sand aufgenommen wurde. Nicht nur der Klassenprimus schaute verlegen nach unten. Schließlich sagte er nur noch: "Man kann sich ja auf gar nichts mehr verlassen."
Möglicherweise ist dies ein ganz wichtiger Hinweis für die Ostererfahrung der Jünger Jesu. Das Wort verlassen hat ja eine gewisse Zweideutigkeit: Sich auf jemanden verlassen, heißt, durch den Anderen Halt, Orientierung und Stütze zu bekommen. Von jemandem verlassen zu werden oder zu sein, bedeutet das genaue Gegenteil: Halt- und Orientierungslosigkeit, Leere und oft Verzweiflung.
So kann man sich durchaus realistisch vorstellen, wie es Jesu Jüngern erging. Ganz ähnlich, wie wir es auch oft erleben: Wir haben Träume und Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche. Und wir freuen uns, wenn sie in Erfüllung gehen. Und wir sind - buchstäblich - todtraurig, oder wie man auch sagt, "zu Tode betrübt", wenn wichtige Stützen im Leben wegbrechen, wenn Menschen auseinandergehen, die zuvor eng miteinander verbunden waren. Oder wenn Mensch tatsächlich sterben - und nichts mehr so ist, wie es war.
Der Tod eines Menschen, der, wie Jesus, die Liebe, die Hoffnung nicht nur verkündete, sondern sie auch tatsächlich so lebte, dass sich alle in seiner Nähe wohlfühlten - er war für seine Anhänger ein tiefer Schock. Und sie hielten es für ein Hirngespinst, als sie hörten, dass Menschen die Erfahrung machten, dass seine Liebe mit seinem Tod nicht untergegangen war. Erst ganz allmählich kamen sie zu sich, es "dämmerte" ihnen so, wie es auch uns mitunter nur langsam aufging bzw. aufgeht. Nämlich, dass das Leben doch stärker ist als der Tod. Es sind mitunter ganz einfache Beispiele, denn wer konnte sich 1989 vorstellen, dass das kommunistische Zwangsregime unblutig zu Ende gehen würde. Kaum vorstellbar war und ist es, dass jemand, der unschuldig 27 Jahre im Gefängnis saß, seinen ungerechten Richtern vergab. So geschehen in Südafrika mit Nelson Mandela und der Versöhnungskommission. Oder wer konnte im vergangenen Jahrhundert ahnen, dass das Milliardenvolk Indiens ohne Gewalt mit Gandhi an der Spitze das Kolonialjoch abschütteln würde.
Auch unsere Zeit braucht solche Erlebnisse, an der sich die ganz große Hoffnung entzünden und stärken kann. Wir alle brauchen sie angesichts von Terror und Unmenschlichkeit, von Angst und Ohnmacht. Doch die Frage steht auf: Ist das alles nicht zu schön, um wahr zu sein? Und vor allem: Ist das alles nicht eine ständige Überforderung, weil wir ja täglich erleben, dass die einfachsten Dinge ins Gegenteil verkehrt werden, dass immer wieder Missverständnisse entstehen und dass - trotz aller erdenklichen Mühe - immer wieder ein Scheitern vieler gut gemeinter Ansätze zu erleben ist?
Hier hat der christliche Osterglauben seinen "Sitz im Leben", hier stiftet er Entlastung und Hoffnung gleichermaßen. Denn die christliche Botschaft sagt eben nicht zuerst und zuletzt: "Du musst!" oder "Du darfst nicht!" Sie sagt immer und immer wieder: "Du bist von Anfang an geliebt!" Und: "Du wirst bis zum Ende geliebt, egal, ob du groß oder klein, reich oder arm, weiß oder schwarz bist." Genau das ist der Unterschied zum "bloßen Humanismus", der nicht ernst macht damit, dass wir als Menschen keine "Zufallstreffer der Evolution", sondern Menschen sind, die ein Gesicht haben, das deshalb strahlen kann, weil es in Liebe angestrahlt wird. Das war die Botschaft Jesu, das haben die Menschen auch nach dem schrecklichen Karfreitag erlebt, das gab ihnen und das gibt uns Hoffnung.
In heutiger Zeit haben zwei Theologen sich ausführlich mit all diesen Fragen beschäftigt. Mitte des vergangenen Jahrhunderts formulierte Karl Rahner die alles entscheidende Frage des Lebens so:
"Weiß der Mensch von heute aus sich wirklich mehr von sich, als dass er eine Frage ist..., die nur weiß, dass die Last der Fragwürdigkeit bitterer ist, als dass der Mensch sie auf die Dauer erträgt?"(1)
Und in unseren Tagen gibt Eugen Drewermann der christlichen Osterbotschaft, die eine Botschaft der Hoffnung und Liebe ist, folgenden Ausdruck:
"Für die Liebe Gottes gibt es keine Verlorenen…, allerdings gibt es nur allzu viele Menschen, die sich selbst verloren gehen und verloren geben… Wenn der Hirte, Gott, dem Verlorenen nachgeht, dann müssen auch wir so tun… Damit ist theologisch das Wichtigste gesagt… Theologisch gilt es…, die Wende mitzuvollziehen, die das Hauptanliegen Jesu zur Erlösung der Menschen von den Fesseln ihrer Angst bildet: Gott will nicht das Abstrafen, sondern das Überlieben der Schuld; so entspricht es seinem Wesen, so ist Gott wirklich und einzig aus der Erfahrung dieses Hintergrunds unserer Existenz wachsen wir auf zu uns selber."(2)
1 Karl Rahner "Von der Not und dem Segen des Gebetes", Herder TB, Freiburg 1958, S. 30
2 Eugen Drewermann "Richtet nicht!", Band III, Ostfildern 2023, S. 486-489