Irrelevanz des Glaubens? – Krise und Chance
Ursächlich sind sie allerdings nicht für die Erfahrung der weitgehenden und offensichtlich noch zunehmenden Irrelevanz des Glaubens in der bestehenden Gesellschaft.
Denn auch wenn die Zahlen drastisch sind und ein nie gekanntes Ausmaß angenommen haben - neu ist das Phänomen nicht! Und damit auch nicht seine wirklichen Ursachen. Denn schon im Jahr 1981 äußerte sich Karl Rahner zum Phänomen Atheismus:
"Wenn es Gott gibt, wenn er das Heil der ganzen Menschheit will, wenn er alle Dinge trägt und durchdringt, dann ist es schon erstaunlich, dass ein solch weltweiter Atheismus möglich ist; dies ist ein Phänomen, das bis heute niemals in der Geschichte der Menschheit ein solches Ausmaß angenommen hat…Ein Lehren Gottes muss mit der eigenen, unverzichtbaren Erfahrung in Verbindung treten…Die theologischen Reflexionen angesichts der Kritiken eines Feuerbach, eines Marx, eines Nietzsche oder eines Camus sind leider noch nicht in das Normalbewusstsein der Kirche…gedrungen. Einer der Gründe für diesen Umstand liegt darin, dass die offizielle Kirche sich relativ wenig zu diesem Thema geäußert hat…Sicherlich, weil die Reflexion auf theoretische, historische und sozio-kulturelle Gründe einer gewissen Gottesverleugnung noch vertieft werden müsste; dann würde jedem Christen klar, worin seine pastorale Verantwortung besteht, die vom Evangelium her verkündet wird…Wir müssen endlich begreifen, dass der große Atheismus sich nicht bei den Armen findet, sondern dass er immer eine Tatsache der begüterten Klassen Europas gewesen ist…"[1]
Es scheint diesen ‚Luxus‘ zu geben, sich der Sinnfrage entziehen zu können. Er scheint am meisten dort ‚zu Hause‘, wo der praktische Materialismus, ein sich absolut setzender Pragmatismus, alles andere verdrängt. Wie ein Krebsgeschwür nimmt er einen Raum ein, dessen Umfang kaum ernsthaft überschätzt werden kann. In extremen existentiellen Nöten bricht die Frage nach sich selbst und nach dem Ganzen u. U. noch einmal durch. Ansonsten leben wir in einer Welt, in der alles machbar scheint[2], alles gut funktioniert, alles reparabel ist und in der die Grenzen menschlichen Denkens und Tuns weder thematisiert noch bestanden werden. Sie sind einfach nicht da. Und wo sie auftreten, werden sie übertüncht, ausgeblendet und - möglichst ‚sanft‘ - ‚entsorgt‘. Die gesamte Diskussion um aktive Sterbehilfe scheint mir ein leises Vorgeplänkel und der Versuch zu sein, wie weit man gesellschaftlich zu gehen bereit und in der Lage ist in der Flucht vor sich selber. Der große Theologe aus der Schweiz, Hans Urs von Balthasar, bringt den Sachverhalt auf die folgende griffige Formel:
"Aber die fürchterliche Frage: Wozu das alles, wird immer lauter werden… die Rotationswalze des allgemeinen Dialogs steht still, weil jeder immer schon weiß, was überhaupt gesagt werden kann…und die fetteste Schlagzeile kein Blickfang mehr ist…ein Erwachen bei sich ist unvermeidbar, ob man sich nun einsam wiederfindet oder, was vielleicht schlimmer ist, im Spiegel des Du, zu dem man floh."[3]
Wir brauchen in der kirchlichen Verkündigung eine neue Sprache, eine Sprache, die ‚geerdet‘ ist[4], die ‚ankommt‘ weil sie Glauben und Leben (wieder) miteinander verbindet. Eugen Drewermann spricht solch eine Sprache, wenn er fragt:
"Woher erhalten wir die Kraft, inmitten der Gleichgültigkeit der Natur unsere Menschlichkeit zu finden und zu bewahren? Dafür brauchen wir Religion." [5]
Drewermann, der aus der Kirche austrat, ringt sich in seinem Spätwerk "Wendepunkte" zu einem fast hymnischen Lobpreis der Kirche durch und setzt in dem Text selber das Wort ‚unsichtbar‘ in Anführungsstriche, weil er offensichtlich um das Erfordernis der institutionellen Gestalt von Kirche in und trotz all ihrer Gebrochenheit weiß:
"Dann verbleibt eine nie endende und tief empfundene Dankbarkeit zu jener <<unsichtbaren Kirche>>, die besteht aus all den vielen, die in ihrem Leben und mit ihrem Leben standen und einstanden für ihren Glauben an die Botschaft Jesu, ein Reich Gottes sei möglich inmitten dieser Welt. Durch ihren Einsatz, ihre Unbeirrbarkeit, durch ihren Mut und ihre Treue ging Jesu Zeugnis weiter, und jeder, der es auf sich nimmt, erkennt in ihnen seine wahren Brüder, seine wahren Schwestern wieder. Es gibt sie doch, jene Gemeinschaft <<aller Heiligen>>, der wir in aller Unvollkommenheit, doch voller Sehnsucht bewundernd und bestärkt entgegenwandern, von ihr getragen und verlockt in dem Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte: <<Unser Vater, himmlischer du, was du bist, das gelte, was du wirkst, das komme, was du willst, geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.>> (Mt 6,9.10)[6]
Wie kann, wie soll eine neue kirchliche Sprache aussehen? Vielleicht ist dies tatsächlich die Innovation kirchlicher Verkündigung, wenn wir beiden zugleich in ihren Hinweisen folgen: Papst Franziskus und Eugen Drewermann:
"Wer, wie beginnend im Jahre 2014 Papst Franziskus, die römische Kirche zu den Armen hin öffnen möchte[7], der muss als erstes im Reden von Gott die Armut der Sprache zurückgewinnen…der muss wieder Raum geben den träumenden Bildern der Sehnsucht in den Herzen der Menschen…"[8]
Können wir das überhaupt (noch)? Innehalten, zur Ruhe kommen, können wir noch träumen davon, dass es doch "mehr als alles geben muss"?[9] Ich glaube, davon hängt in erster Linie ab, ob Religion eine Zukunft hat, ob wir uns getrauen, die "Erfahrung des Geistes"[10] wahrzunehmen, zuzulassen - und vor allem, sie auszusprechen, sie zu bezeugen als das Eigentliche, als das, was uns Menschen als Menschen ausmacht. Jenseits der Strukturen und Finanzen ist diese Frage, dieses Einüben in das Weitergeben dessen, was wir in der Kirche empfangen haben, für mich die Zukunftsfrage der Kirche schlechthin. Die Pastoral in Gegenwart und Zukunft wird eine mystagogische sein - oder sie wird nicht mehr sein!
Glauben kann man nicht allein, sondern nur in Gemeinschaft. Auch dies ist eine, wenn nicht die Glaubenshilfe, denn der "Glaube kommt vom Hören". Vielleicht sollten wir viel stärker als bisher unsere Bemühungen darauf richten, auf große Beter des vergangenen Jahrhunderts zu lauschen, uns ihrem Glaubenszeugnis unbefangen anzuvertrauen. Denn - auch davon bin ich überzeugt - wir haben in den Werken der großen Theologen des vergangenen Jahrhunderts einen Schatz vor uns, der nur zum Schaden der Kirche weiterhin in so großem Ausmaß unbeachtet bleibt wie bisher. Reinhold Schneider, Hans Urs von Balthasar und vor allem Karl Rahner sind Lehrer des Glaubens, weil deren Glaubenszeugnis das Medikament ist gegen die ‚Krankheit‘ der Irrelevanz gläubiger Existenz in unserer Zeit.
Reinhold Schneider sprach vom "Versuch, beendeter Tradition einen letzten Wert zu geben und wenigstens die Schlüssel verbrannter Häuser zu wahren." [11] Welch ein Symbol! Und wie wenige wissen (noch) um die "Schlüssel", geschweige um deren Bedeutung! Man lese nur in dieser Autobiografie die Seiten 65 - 67, wenn Schneider von der Tragik spricht, vom
"Hunger nach Unsterblichkeit", der nicht gesättigt werden konnte. Und dieser war der Lebensgehalt der Menschen und Völker, der Geschichte. Er war das Geheimnis Immanuel Kants…Das ursprünglich sehr ernste Wort Existenz, Existentialismus, ist inzwischen zerredet worden."[12]
Wer spricht heute noch so? Wer kann heute seine Weltdeutung noch in dieser Tiefe formulieren? Und doch - um des Menschen willen und um Gottes willen kommt wirklich alles darauf an! Denn:
"Wir sind unterwegs, Wanderer zwischen zwei Welten. Weil wir noch auf Erden wandeln, lasst uns bitten um das, was wir auf dieser Erde brauchen. Da wir aber Pilger der Ewigkeit auf dieser Erde sind, lasst uns nicht vergessen, dass wir nicht so erhört werden wollen, als ob wir hier eine bleibende Stätte hätten…" [13]
Die Frage - hoffentlich wird sie auch in Zukunft (noch) gestellt werden - bleibt: Was macht uns als Menschen wesentlich aus? Oder, wie es Paul Tillich formulierte: Was geht uns wesentlich an? Der Ausfall dieser Frage, das Aufgehen im rein Funktionalen wäre - nicht der Tod Gottes, sondern der Tod des geistigen Menschen! Darum verstehen wir uns als Menschen - heute und morgen - nur richtig, wenn wir unsere Existenz als "pilgernde Existenz" begreifen, denn wir sind
"Wanderer zwischen zwei Welten, Menschen im Übergang, bewegt und sich bewegend, die auferlegte Bewegung steuernd und in der geplanten Bewegung erfahrend, dass man nicht immer dort ankommt, wohin der Gang geplant war. In dem schlichtesten Gehen…ist so das ganze Dasein des Menschen eigentlich schon da und vor sich selbst gebracht, das Dasein, dem der Glaube des Christen sein Ziel enthüllt…Wir gehen, wir müssen suchen. Aber das Letzte und Eigentliche kommt uns entgegen, sucht uns…" [14]
Rudolf Hubert
Schwerin, den 01.07.2020
[1] Karl Rahner im Gespräch, II, München 1983, S. 192 ff
[2] Die Kehrseite dieser Lebenseinstellung sind abgrundtiefe Ängste und existentielle Sorgen (vgl. Eugen Drewermann "Strukturen des Bösen" I - III, Paderborn 1977/78), das Resultat ist identisch. Kein Mensch kann ohne die Botschaft leben, dass er mehr ist als ein "Übergangsgebilde im Stoffwechselhaushalt der Natur". (Drewermann, Wendpunkte 9)
[3] Hans Urs von Balthasar "In der Fülle des Glaubens - Lesebuch", Freiburg-Basel-Wien 1980, S. 207 (aus "Der Mensch - der ‚Bruder, für den Christus starb‘")
[4] Ein besonders schönes Beispiel bietet das kleine Bändchen des Konzilstheologen Karl Rahner "Alltägliche Dinge", (Einsiedeln-Köln-Zürich 1964, 7. Auflage) der tiefsinnig über elementare Lebensvorgänge wie Arbeit, Gehen, Sitzen und Sehen, Lachen, Essen und Schlafen meditiert und diese "Theologische Meditation" mit einer geistlichen Besinnung "Von der Erfahrung der Gnade im Alltag" beschließt.
[5] Eugen Drewermann in Sonntag 21. Juni 2020 Nr.25 NK
[6] Eugen Drewermann, "Wendepunkte", Ostfildern, 2014,,S.326
[7] Hier wird das Erfordernis einer diakonischen Pastoral und die ‚Option für die Armen‘ unmissverständlich als kirchlicher Auftrag formuliert.
[8] Eugen Drewermann, "Wendepunkte", Ostfildern, 2014, s. 502
[9] Buchtitel von Dorothee Sölle "Es muss doch mehr als alles geben."
[10] Meditation von Karl Rahner
[11] Reinhold Schneider "Verhüllter Tag", Köln& Olten (4.Auflage) MCMLVI, S. 9
[12] Reinhold Schneider "Verhüllter Tag", Köln& Olten (4.Auflage) MCMLVI, S.66
[13] "Beten mit Karl Rahner", Band 1 "Von der Not und dem Segen des Gebetes", Freiburg-Basel-Wien 2004, S. 129
[14] Karl Rahner "Alltägliche Dinge", (Einsiedeln-Köln-Zürich 1964, 7. Auflage), S. 13