„Seht, da ist der Mensch.“ (Joh 19,5)
Am 5. Mai gehen Menschen mit und ohne Behinderung auf die Straße. Sie protestieren - nicht aus Ärger, sondern aus Hoffnung. Hoffnung auf eine gerechtere Welt, auf gleiche Rechte, auf echte Teilhabe. Und auch, wenn es politisch begonnen hat: Es ist zugleich eine zutiefst geistliche Bewegung. Denn der Ruf nach Würde, nach Anerkennung und Sichtbarkeit ist ein heiliger Ruf.
Als Jesus von Pilatus den Menschen gezeigt wurde - geschlagen, verspottet, entblößt - sprach dieser: "Ecce homo - Seht, da ist der Mensch." (Joh 19,5)
Ein verletzter Körper, ein erniedrigter Mensch - und doch offenbart sich hier das tiefste Geheimnis göttlicher Gegenwart. Gott ist da, wo der Mensch leidet. Wo er ausgeschlossen wird. Wo seine Stimme überhört wird. Und Gott bleibt da - mitten unter den Verwundeten.
Der Theologe Jean Vanier (1928 - 2019), Gründer der Arche-Gemeinschaften, schrieb:
"Menschen mit Behinderung lehren uns, was es heißt, Mensch zu sein. Nicht durch Leistung, sondern durch Beziehung."
In einer Welt, die so oft nach Funktion fragt, nach Effizienz und Anpassung, stellt uns dieser Tag eine andere Frage: Wie siehst du den Menschen? Siehst du ihn mit den Augen der Welt - oder mit den Augen des Herzens?
Der Protest ist nicht nur politisch. Er ist auch prophetisch.
Denn wo Menschen gemeinsam für Gerechtigkeit einstehen, ist Gott nicht fern. In der Bibel ruft der Prophet Micha:
"Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Recht tun, Güte und Treue lieben und demütig den Weg gehen mit deinem Gott." (Micha 6,8)
Recht tun - das heißt: Strukturen verändern, Teilhabe ermöglichen, Barrieren abbauen.
Güte lieben - das heißt: Räume öffnen, zuhören, nicht urteilen.
Demütig gehen - das heißt: einander auf Augenhöhe begegnen. Nicht von oben herab helfen, sondern gemeinsam wachsen.
Inklusion beginnt nicht bei Programmen - sie beginnt im Herzen.
Im Staunen über die Vielfalt Gottes. Im Anerkennen der eigenen Bedürftigkeit.
Denn wer ehrlich hinschaut, weiß: Jeder Mensch ist auf Hilfe angewiesen - auf Annahme, auf Geduld, auf Liebe.
Vielleicht ist genau das die tiefste spirituelle Wahrheit dieses Protesttages:
Wir sind nicht gleich - aber wir sind gleich wertvoll.
Und: Niemand ist ganz heil, aber jeder ist ganz Mensch.
Es ist unser christlicher Auftrag, gemeinsam Schritte zu gehen - für eine Kirche und eine Gesellschaft, die sieht - und nicht nur anschaut.
Die hört - und nicht nur überredet.
Die mitgeht - auch dann, wenn der Weg holprig ist.
Denn wie Teresa von Ávila (1515 - 1582) einmal sagte:
"Christus hat keinen Körper außer Deinem. Keine Hände, keine Füße auf der Erde außer Deinen. Es sind Deine Augen, mit denen er sieht - er leidet mit dieser Welt."
Nehmen wir diesen Auftrag ernst - und setzen wir uns ein für eine Welt, in der jede und jeder gesehen, gehört und geachtet wird.