"Die Armut der Sprache zurückgewinnen“
I
Die Caritas in Deutschland, auch bei uns hier im Erzbistum Hamburg, hat einen exzellenten Ruf. Sie stellt sich mit ihren vielfältigen Angeboten all jenen Menschen zur Verfügung, die in Not sind und der Hilfe bedürfen. Das wird nicht nur hoch anerkannt im Land und in den Kommunen, es hat vielerorts eine langjährige, gute Tradition.
Heute möchte ich nicht auf einzelne Dienste und Einrichtungen eingehen. Meine heutigen Gedanken zum Caritas-Sonntag beschäftigen sich mit einer grundsätzlichen Frage, die ich gern und provokant so formulieren möchte:
"Was geht die Caritas die Kirche an?" Ich betone es ausdrücklich, dass es eine provozierende Frage ist, die sich anlehnt an den Titel eines kleinen Büchleins des Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar, der seinerzeit die aufreizende Frage stellt: "Was geht mein Glaube die Kirche an?"
Nun gut, auf den ersten Blick kann man es sich leichtmachen und auf die beiden Hirtenworte unseres Erzbischofs Dr. Stefan Heße aus diesem und dem vergangenen Jahr, jeweils zum Fest des Hl. Ansgar, verweisen. In beiden Hirtenworten äußert sich der Erzbischof eindeutig, dass er sich eine Kirche nur als dienende Gemeinschaft vorstellen kann.
Und zum Umgang untereinander fordert er unmissverständlich das Prinzip Augenhöhe ein.
Damit dürfte eigentlich der caritative Charakter der Kirche ebenso hinreichend beschrieben sein, wie auch der kirchliche Charakter der Caritas. Dies umso mehr, als der Bischof feststellt, dass die Kirche - und mit ihr die Caritas - längst kein großer Tanker mehr ist. Er ist vielfach Leck geschlagen und die Kirche ähnelt viel mehr den kleinen Barkassen, wie man sie im Hafen oft beobachten kann. Auf ihnen herrschen Nähe, Eigenverantwortung und Teamgeist. Dieses Bild hat m. E. auch für die Caritas in den Regionen und Diensten fundamentale Bedeutung.
II.
Doch die Frage bleibt hartnäckig bestehen: Was geht die Caritas die Kirche an? Und auch umgekehrt. Geht es nicht auch ohne Kirche? Wäre das caritative Engagement ohne Institution heute nicht einfacher? Und gibt es nicht so viel Gutes auch außerhalb der Kirchenmauern?
Warum ist die Beantwortung dieser Frage heute so wichtig? Ich sehe dafür viele Gründe, ich möchte nur auf drei kurz eingehen:
1. Es besteht - vor allem durch den Missbrauchsskandal in unserer Kirche - eine große Verunsicherung. Caritas ja, Kirche nein - wäre das eine Option? Egal, wie die Antwort ausfällt, sie muss in jedem Fall begründet werden, sonst fällt sie ins Leere.
2. Es gibt in der Gesellschaft und somit auch in unseren caritativen Diensten zunehmend Menschen, die keinen oder nur einen lockeren Bezug zur Institution Kirche haben (1). Gerade hier ist diese Frage mit Dringlichkeit spürbar, ob es nicht auch ohne die Institution Kirche geht. Ist es ohne sie nicht viel einfacher?
3. Wenn Menschen auf andere Vereine und Verbände schauen, können sie leicht zum Schluss kommen, dass das Gute sich auch ebenso gut, vielleicht sogar besser außerhalb der "Kirchenmauern" verwirklichen lässt. Und so ganz falsch scheint diese Meinung ja nicht zu sein, denn der Innsbrucker Dogmatiker Roman Siebenrock sagt:
"Während… sich andere Identitäten durch Abgrenzungen bestimmen, ist das Christliche als das Gemeinsame aller Menschen auf Grund ihrer Herkunft und Zukunft in Gott auszulegen." (2)
"Das Christliche als das Gemeinsame aller Menschen auf Grund ihrer Herkunft und Zukunft in Gott" - wie kann man dies begründen, ohne seinen kirchlichen Glauben aufzugeben? Oder ist es nicht genau umgekehrt: Dass nämlich erst unser - und zwar kirchlicher - Glaube uns diese Aussage ermöglicht? Mitsamt ihrer umfassenden Weite und Tiefe und Menschenfreundlichkeit - mit all ihren Implikationen, d. h. mit all dem, was sich aus dieser Welt- und Menschensicht ergibt bzw. was diese Sicht vom Menschen alles beinhaltet?
III
Genau das scheint mir "des Pudels Kern" zu sein. Ohne diese hinreichende Begründung für Menschenrecht und Menschenwürde geht es nicht, ging es nie! Und sie wird bezeugt durch eine Institution, die jenen Glauben verbürgt, der die Botschaft von der Gottebenbildlichkeit des Menschen nie aufgab. Auch wenn sie wusste, dass eben dieser Glaube, diese Botschaft ihr oftmals als Institution selbst das Urteil sprach, wenn sie ihr eigenes Tun daran messen lassen musste.
Und doch fällt es uns heute so schwer, diese Botschaft nicht nur zu tun, sondern auch zu sagen, sie ins Wort zu bringen, sie auch sprachlich zu vermitteln. Mir scheint, heute ist nichts weniger gefragt in der kirchlichen Caritas, als - bei aller Theorie - "die Armut der Sprache zurückzugewinnen"(3). Worum geht es konkret dabei?
- Es geht vornehmlich darum, in einer zunehmend unübersichtlichen Situation im Glauben (neu) Stand zu finden und ihn zu befestigen.
- Es geht darum, sprachfähig oder sprachfähiger zu werden, damit unser Eigentliches auch weitergegeben, bezeugt werden kann: unseren Kindern, unseren Freunden und Bekannten. Mir scheint, wenn uns dies nicht gelingt, wenn wir nicht anschlussfähig sind bzw. bleiben, wird die Weitergabe des Glaubens an die nächsten Generationen nicht gut gelingen.
- Es geht darum, dass wir nicht zulassen dürfen, dass der Glaube verdunstet wie Morgennebel in der Frühlingssonne.
Die Weitergabe des Glaubens geht nur, wenn wir - mitunter mühsam und stammelnd - versuchen - und zwar in einfachen Worten - uns und anderen Rechenschaft zu geben über Grund, Sinn und Ziel unseres Tuns. Auch und vor allem in unseren Dienstgemeinschaften, in unseren Einrichtungen und Beratungsstellen. Und - entscheidend! - genau das ermöglicht und gebietet zugleich unser Glaube, denn:
- Überall, wo Gutes geschieht, ist Gottes Geist am Wirken. Es gibt nichts Gutes, das wir als Menschen eigenmächtig "leisten" können. Sonst hätten wir vor Gott einen Stand, der mit ihm nichts zu tun hätte. Das wäre im wörtlichen Sinn gottlos.
- Weil also jede sittlich gute Tat - egal, wo und wann und durch wen sie geschieht - immer einen Bezug zu Gott und damit auch zu Christus hat, ist sittlich gutes Tun gewissermaßen - und zwar immer - vom Christusereignis "imprägniert".
- Wenn es einen Heilsvollzug nur gibt in irgendeiner Art der Beziehung zu Christus, dann ist damit auch ein Bezug zu SEINER Kirche mit gesetzt. Denn sie ist ohne Beziehung zu Christus weder denkbar noch real. (4)
Weil das so ist, kann man als das Unterscheidend Christliche tatsächlich das Gemeinsame aller Menschen bestimmen. Und genau darum finden sich viele Vollzüge des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe überall und zu allen Zeiten, wo Gottes Geist weht. Und der weht bekanntlich, wo ER will, nicht wo wir wollen, dass, wann und wo er weht.
IV.
Schlussendlich noch einmal die Frage: Warum dann noch Kirche? Man könnte nüchtern sagen: Um genau dies in Tat UND WORT der Welt zu bezeugen. Das ist unsere kirchliche Sendung als "Kirche in der Welt von heute"(5). Letztlich deshalb, um mit dafür zu sorgen, dass von Gottes und des Menschen Wirken immer groß gedacht wird. Um den Horizont des Glaubens, der der Horizont des Menschen ist, nicht einzuengen oder einengen zu lassen durch die - auch heute allenthalben anzutreffende - Vergötzung endlicher Werte wie Reichtum, Macht, Lust, Ansehen, Gesundheit oder wie immer die modernen "Götzen" auch heißen mögen, die medial fast omnipotent erscheinen.
Doch ist das alles nicht ein - zu schönes! - Konstrukt angesichts der Welt, wie wir sie erleben? In der abgrundtiefes Grauen, unbeschreibliche menschliche Not und barbarische Zerstörungen zunehmen und in der all das Gute und Erreichte oft als Selbstverständlichkeit achtlos hingenommen wird? Ja, auch hier ist unser Glaube, der sich in der Caritas einen "leibhaftigen Ausdruck" verschafft, wirkliche Lebenshilfe. Wir nennen die Sprache des Glaubens oft mühsam und verlegen Gebet, das mitunter kaum noch vom Verstummen angesichts vieler Nöte unterschieden werden kann. Doch es gehört zu uns, es macht uns als Menschen aus, auch wenn sich unser Gebet oft ausnimmt wie die "wehrlose Weigerung, sich von Ideen oder Mythen trösten zu lassen". Es "bleibt (oft, RH) Gottespassion" und ist "sehr oft nichts anderes als ein lautloser Seufzer der Kreatur". (6)
Diese Sprache, nicht ÜBER, sondern ZU dem unbegreiflichen und unbegreiflich liebenden Geheimnis unserer Existenz: Sie darf nicht verlorengehen - um des Menschen, ja, um des Mensch-Seins willen! Der Theologe Karl Rahner, der vor fast 40 Jahren verstorben ist und der auch ein großer Beter war, fasst diese Erkenntnis in einem Gebet zusammen:
"Ich muss nicht auf der Kanzel predigen, aber - was schwerer ist - durch mein Leben das Evangelium bezeugen. In einer Umgebung, die weder ausdrücklich das Christliche ablehnt, noch es wirklich liebt, sondern alles Religiöse tabuisiert..."(7)
Caritas war für Karl Rahner gewissermaßen die DNA der Kirche, er war da auf eine - mitunter schockierende - Weise eindeutig:
"Der Wille zur Kirchlichkeit der Menschen muss somit in der Kirche ein Wille sein, dass diese kirchlichen Christen allen dienen… Die Kirche hat auch dann für Gerechtigkeit, für die Würde des Menschen einzutreten, wenn es ihr selbst eher schadet…"(8)
Ja, er gab der Kirche mit ihrer Caritas ein untrügliches Kriterium an die Hand:
"Wo die Kirche mehr an sich selber denkt und sich anders selbst zu retten sucht als durch die Rettung der anderen" (9), dort, so meinte es Karl Rahner schon vor vielen Jahren, hat sie sich eigentlich selber aufgegeben.
Was geht die Caritas die Kirche an? Alles! Um des Mensch-Seins willen! Jesu Gleichnis vom Schatz im Acker ist absolut eindeutig: Wer nicht bereit ist, alles zu verkaufen, alles dran zu geben, der wird den Schatz im Acker nicht bekommen.
Wer - und das scheint mir das einzig Sichere heute zu sein - das Wagnis gläubigen Tuns eingeht im Leben, nur der hat die Chance, wirklich alles zu gewinnen. Auch hier war Jesu alles andere als jemand, der faule Kompromisse einging: Die Kalten und die Heißen waren ihm lieb. Am wenigsten konnte er mit den Lauen etwas anfangen. Und wenn im "jüngsten Gericht" all jene "selig" genannt werden, die getröstet, geholfen, gelindert haben, dann dürfen wir eines dabei nicht vergessen: Am Schluss stand die - fast ungläubige - Frage: "Wann haben wir dich getröstet, gestärkt oder besucht?" Und Jesu Antwort war von glasklarer Logik und sie war messerscharf: Was ihr nur einem der Geringsten unter den Schwestern und Brüdern getan habt - das habt ihr MIR getan!
(1) Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Glaube und Kirche hier eigens zu betonen!
(2) Roman A. Siebenrock in "Nach Rahner" - post et secundum, Köln 2004, S. 86
(3) Eugen Drewermann "Wendepunkte", Ostfildern 2014, S. 502. Das Anliegen spricht sich auch in Karl Rahners Forderung nach "Kurzformeln des Glaubens" aus. ("Grundkurs des Glaubens", Freiburg-Basel-Wien 1977, S. 430 ff - SW 26, S. 422 ff - sachlich identisch auch mit der Intention des Buches "Einfaltungen" von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln - Trier 1987 (dritte Auflage)
(4) Wie diese Beziehung konkret aussieht, konkret aussehen kann, darüber mögen Theologen weiter nachdenken. In der Caritas wird versucht, jene Antwort zu gegeben, die mir am überzeugendsten zu sein scheint: Die bewusste Nachfolge Jesu in der Tradition des "barmherzigen Samariters" und des Vaters, der dem "verlorenen Sohn" entgegenläuft und ihn in die Arme nimmt.
(5) Konzilskonstitution "Gaudium et spes"
(6) Johann Baptist Metz in "Karl Rahner in Erinnerung", Düsseldorf 1994, S. 79
(7) Karl Rahner "Gebete des Lebens", Freiburg-Basel-Wien 1993, S. 163 f
(8) Karl Rahner "Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance", Freiburg-Basel-Wien 1972, S. 67 f
9) Karl Rahner "Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance", Freiburg-Basel-Wien 1972, S. 67 f