Das Gebet verstummt…
Ukrainische Kriegsflüchtlinge an der Grenze zu Polen.Foto: Caritas Polen/ Caritas International
Zum Verstummen oder zur Entrüstung bringen mich auch Meinungen, die ohne jede Empathie davon "faseln", dass es ausschließlich um wirtschaftliche Interessen des "militärisch-industriellen Komplexes" geht, um den Gewinn der Rüstungs-und Ölindustrie. All das macht mich sprachlos, fassungslos, traurig und wütend angesichts der vielen unschuldigen Opfer, besonders unter Frauen, Kindern, älteren und behinderten Menschen. Es gibt keinen einzigen stichhaltigen Grund für diesen irrsinnigen und menschenverachtenden Angriffskrieg in Europa. Es gibt überhaupt keinen Kriegsgrund, sei es in der Ukraine, im Jemen, in Syrien oder sonst wo. Auch wenn man über manchen politischen Aspekt unterschiedlicher Meinung sein kann - kriegerische Aggression nimmt sich selbst aus dem zivilisatorischen Kontext. Sie ist und bleibt immer - pure Barbarei! Den Überfall auf die Ukraine hat nicht das russische Volk, sondern ein entfesselter Despot, das "System Putin" zu verantworten.
"Wo bleibt Gott?" "Wie kann der ‚gute‘ Gott dieses Leid zulassen?" Wie oft hörte ich in den vergangenen Tagen diese und ähnliche Fragen. Um es gleich vorweg zu sagen: Wer hier vorschnell meint, eine Antwort zu wissen, weiß offensichtlich nicht, wovon er redet. Dennoch müssen wir als glaubende Menschen mit dieser Wirklichkeit umgehen. Wir können sie nicht ignorieren oder verdrängen, sondern müssen uns zu ihr verhalten. Wie kann man das, ohne um den Verstand gebracht zu werden?
Mir helfen in solchen Situationen Gedanken eines Schriftstellers, der viel zu früh, im Jahr 1958, mit nicht einmal 55 Jahren, verstarb. Reinhold Schneider, der im 2. Weltkrieg ein Tröster von vielen und ein- nicht selten missverstandener - Pazifist in den Nachkriegsjahren war, wurde von solchen und ähnlichen Fragen und Gedanken geplagt wie kaum ein anderer. Und was hat Reinhold Schneider gedacht und gesagt? Hören wir diesem großen Beter einfach zu, überlassen wir uns seinem Wort, machen wir es zu unserem. Dann sind wir aufgehoben in einer Gebetsgemeinschaft, die auch die tiefsten Tiefen sich nicht erspart. Und die dennoch vom "abwesenden Gott" nicht ablässt:
"Das Gebet verstummt. Die gefürchtete Frage der Verlassenheit brennt schlimmer als Schmerzen. Aber ist diese Frage nicht Gebet: der letzte Notruf des Glaubens? … Der Verlassene weiß doch, dass er angewiesen ist auf einen Andern… Er leugnet nicht, ob er auch nicht mehr begreift und fragend verzweifelt. Sein Warum ist das äußerste Wort der Sehnsucht…"
(Reinhold Schneider "Das Kreuz in der Zeit", Freiburg-Basel-Wien 1959, Neuausgabe, S. 77 f)