Wieder am Leben teilnehmen
Hier setzt die Eingliederungshilfe der Caritas in Schleswig-Holstein an, die seit Ende 2024 in Kiel und Flensburg aktiv ist. Besonders Menschen mit psychischen Einschränkungen profitieren von dieser Hilfe.
Eingliederungshilfe in Flensburg: "Hier kann ich etwas bewirken."
"Ich bin eine Gruppe." So beschreibt Narges (Name von der Redaktion geändert) ihre psychische Erkrankung. Die ärztliche Diagnose lautet "dissoziative Persönlichkeitsstörung". Im Klartext bedeutet das, dass neben der vorrangig präsenten Narges mehrere andere Persönlichkeiten auftreten können. Beispielsweise kommt in bedrohlichen Situationen eine männliche Person zum Vorschein, die sie als den "Schützer" bezeichnet. Eine weitere Person nennt sie Sophia. Nicht alle in der Gruppe sind erwachsen, es gehören auch Kinder zu Narges‘ innerer Familie. Und wie in jeder Familie gibt es Diskussionen, Konflikte und viele unterschiedliche Bedürfnisse. Die Personen müssen alles miteinander aushandeln - etwa, ob Narges einen Termin wahrnimmt oder nicht. Ihre Einkäufe richten sich nach den unterschiedlichen Vorlieben der Einzelnen. Es kommt vor, dass sie Männerkleidung kauft, wenn gerade eine männliche Persönlichkeit dominiert. Diese "Familieneinkäufe" führen dazu, dass sie mit ihrem Geld nie auskommt und inzwischen verschuldet ist. Ihr Tagesrhythmus ist unregelmäßig, sie kann sich schlecht konzentrieren, denn: "Wenn einer von uns abgelenkt ist, sind alle abgelenkt."
Kleine Ärgernisse können sich hochschaukeln. "Wenn etwas nicht gut läuft, sind wir alle darauf fokussiert, das wird dann eine große Sache." Die Einhaltung von Regeln ist ihr sehr wichtig. "Es gibt nur 0 oder 100, ja oder nein." Wenn sie sieht, wie andere Menschen sich Regeln zurechtbiegen, macht ihr das zu schaffen, denn die Kinder in ihr werden dann "rebellisch" und stellen die Regeln ebenfalls infrage.
Nach Narges‘ Erinnerung hatte sie immer schon verschiedene Persönlichkeiten in sich. Lange Zeit war ihr gar nicht klar, dass das bei anderen Menschen nicht so ist. Erst 2017 war sie zum ersten Mal deswegen beim Arzt. Vermutet wurde zunächst eine bipolare Störung. Auch eine Drogensucht wurde ihr unterstellt, bis in einer Klinik schließlich die richtige Diagnose gestellt wurde.
Narges stammt aus dem Iran. Seit 2012 lebt sie in Deutschland. Nach einem Sprachkurs arbeitete sie als Verkäuferin, machte dabei aber schlechte Erfahrungen. "Überstunden wurden nicht bezahlt, und als ich mich krankmelden musste, wurde mir gekündigt." Sie begann mehrere Ausbildungen, schloss schließlich 2023 eine Ausbildung als pharmazeutisch-technische Assistentin erfolgreich ab. Eine Stelle fand sie aber nicht. Inzwischen besucht sie die Abendschule, um ihr Abitur nachzuholen. Nebenbei arbeiten kann sie derzeit nicht, weil sie oft sehr erschöpft und depressiv ist. "Wenn es mir, uns allen, bessergeht, können wir nach einer Stelle suchen." Nach dem Abschluss möchte die 33-Jährige gerne studieren. Über die Fachrichtung ist sie sich noch uneins: "Ich möchte Medizin studieren, Sophie lieber Kunst. Und der Schützer möchte am liebsten auf einem Berg mit Schafen leben und gar nichts lernen."
Um ihr Leben meistern zu können, benötigt die junge Frau Hilfe: eine gesetzliche Betreuerin, eine Ergotherapeutin, ein Psychotherapeut unterstützen sie - und die Eingliederungshilfe der Caritas. Bei Sozialarbeiterin Lais Adelita Herrmann-Kühl fühlt sich Narges gut aufgehoben. "Mit ihr kann ich über alles reden. Ich freue mich, wenn ich eine Nachricht von ihr lese, wenn ich ihre Stimme höre. Sie ist wie eine Schwester für mich." Die Mitarbeiterin musste sich erst auf die besondere Situation ihrer Klientin einstellen. Da sie früher schon Erfahrung mit dieser Art von Krankheit gesammelt hat kann sie angstfrei damit umgehen. Sie weiß: "Ich muss nicht nur Narges überzeugen, sondern alle Personen." Anfangs hatte der "Schützer" noch abwehrend reagiert, aber inzwischen hat er verstanden, dass sie keine Bedrohung darstellt. "Er kann sich entspannen, wenn sie da ist. Auch die Kinder mögen sie", freut sich Narges. So kann Lais Adelita Herrmann-Kühl ihrer Klientin Entlastungsgespräche in Konfliktsituationen anbieten, sie ermutigen aufzuräumen und einzukaufen. Das Vertrauensverhältnis der beiden Frauen erlaubt ihr auch, dass sie Gespräche mit den Lehrern an der Abendschule führt. Manchmal stößt die Sozialarbeiterin aber auch an ihre Grenzen: "Wenn ich merke, dass eine andere Person mit mir redet als Narges, kommt es auch vor, dass ich das Gespräch beende." Bisher wurden nur zwei Stunden Eingliederungshilfe pro Woche bewilligt. "Das muss mehr sein. Für die Stabilität ist es sehr wichtig, dass ich öfter vorbeikomme. Es macht einen Unterschied, dass ich Narges zur Seite stehe", ist die Sozialpädagogin überzeugt. Ihre Klientin spürt bereits eine Verbesserung: "Die Angst in mir ist viel weniger geworden, es geht nicht mehr um Leben und Tod." Ihr Ziel ist, stabiler und selbständiger zu werden. "Ich möchte wieder motiviert und lebensfroh sein. Ich möchte arbeiten und mich selbst versorgen", beschreibt sie ihre Ziele.
Manuel Petersen ist begeistert von der "astreinen" Unterstützung durch Lais Adelita Herrmann-Kühl.
Aktuell kümmert sich Lais-Adelita Herrmann-Kühl um vier Klient*innen. Einer davon ist Manuel Petersen. Der 54-Jährige lebt erst seit einem guten halben Jahr in Flensburg. Er blickt auf eine vielseitige Berufserfahrung zurück - von der Wohnungslosenhilfe über die Unterstützung von Menschen mit Behinderung bis zur Beratung von Senioren, die ihr Zuhause barrierefrei umbauen wollten. Nach zwei schweren Operationen benötigt der geschiedene Familienvater nun selbst Unterstützung: Hirnwasser hatte auf verschiedene Gehirnregionen gedrückt, was zu Vergesslichkeit und Inkontinenz führte. "Zuerst war ich beim Urologen, der schickte mich zum Neurologen, dann kam ich ins Krankenhaus." Die Genesungsdauer ist noch nicht absehbar. Durch den Druck aufs Gehirn hat er viel Wissen verloren, "aber es wird wiederkommen", meint er zuversichtlich. Klient bei der Eingliederungshilfe wurde Petersen Anfang 2025 - und ist begeistert: "Von Lais bekomme ich eine astreine Unterstützung. Sie hat ein Herz und berufliche Erfahrung, sie bringt Freude mit und gibt sie weiter. Ich habe vollstes Vertrauen zu ihr." Durch die Eingliederungshilfe erfahre er Sicherheit und Rückhalt. Geholfen hat ihm die Caritas-Mitarbeiterin bei Antragstellungen, etwa für die Erstausstattung seiner Wohnung.
Manuel Petersen geht ungern allein nach draußen - aus Sorge, dass ihm schwindlig werden könnte. Deswegen begleitet ihn Lais-Adelita Herrmann-Kühl auf Spaziergängen. Nach ihrer Erfahrung ist es für viele Klienten ein Problem, ohne Begleitung vor die Tür zu gehen. "Mein Ziel ist aber immer, dass die Person das irgendwann wieder ohne uns schafft." Die Perspektive für die Zeit nach der Eingliederungshilfe bleibt im Blick - wie bei Manuel Petersen, mit dem die Sozialarbeiterin gemeinsam Ideen für seinen weiteren Werdegang entwickelt. Eine Erwerbsarbeit wird Manuel Petersen in absehbarer Zeit nicht aufnehmen können, aber er möchte nicht untätig herumsitzen. Ab April wird er deshalb ehrenamtlich bei der Familienhilfe der Caritas mitarbeiten.
Lais-Adelita Herrmann-Kühl hat vorher lange in Berlin gearbeitet. Obwohl sie erst seit einem Jahr in Flensburg lebt, ist sie bereits bestens vernetzt. "Hier ist alles persönlicher, ich kenne die Ansprechpartner und bin selbst bekannt. Der Richter ruft mich persönlich an, wenn er einen Brief von mir bekommt. Hier kann ich schneller etwas bewirken", fasst die Sozialarbeiterin ihre Erfahrungen zusammen. Bisher ist sie "Einzelkämpferin", aber ab April bekommt sie Verstärkung durch eine Erzieherin, die sie vor allem bei den Hausbesuchen unterstützen wird.
Eingliederungshilfe in Kiel: Die Isolation überwinden
70 Kilometer weiter südlich ist die Caritas ebenfalls vor kurzem in die Eingliederungshilfe eingestiegen. In der Landeshauptstadt Kiel ist Mitarbeiterin Sabine Lüthje seit Ende 2024 für anspruchsberechtigte Menschen da. Tom Willumsohn, der seit Anfang 2025 die Kieler Caritas leitet, unterstützt sie dabei und bietet gleichzeitig als Alltagscoach eine niedrigschwellige Anlaufstelle für Menschen, die noch keine Bewilligung für eine Eingliederungshilfe erhalten haben.
"Die Stadt ist froh, dass die Caritas nun auch Eingliederungshilfe anbietet. Denn der Bedarf ist größer als die Kapazitäten der Träger", erklärt Willumsohn. Wer nutzt die Angebote der Eingliederungshilfe? "Die meisten Leistungsberechtigten sind psychisch erkrankt, leiden zum Beispiel an einer Angststörung oder an Kontaktschwierigkeiten", weiß der Sozialarbeiter. Die Caritas biete die Hilfe für Menschen mit psychischen Einschränkungen zwar nicht als Schwerpunkt an, "aber die Erfahrung zeigt, dass hier der Bedarf am größten ist". Der Anspruch auf Hilfe ist gegeben, sobald eine Diagnose für eine psychische Erkrankung vorliegt. "Das Amt für Eingliederungshilfe erstellt dann einen Gesamtplan, in dem steht, welche Bedarf für Unterstützung es gibt, in welchem Umfang und mit welchen Zielen" erläutert Tom Willumsohn.
An welchen Träger sich die Hilfesuchenden dann wenden, entscheiden sie selbst. Und sie müssen eigenständig den Kontakt herstellen. Viele Menschen, die eine Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen, tun sich allerdings im Kontakt mit der "Außenwelt" schwer. Sie isolieren sich selbst von engen Freunden und der Familie. Manche können kaum noch die eigene Wohnung verlassen. Oft fehlt den Betroffenen der Antrieb, sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern: "Aktuell begleite ich zwei Menschen als Alltagscoach, die Probleme damit haben, Termine wahrzunehmen. Die Antragstellung und das Erstgespräch sind für solche Personen schon eine große Hürde", erklärt der Berater.
Die Hilfe - je nach Bedarf eine bis vier Stunden pro Woche - erfolgt dann teils aufsuchend, also in der Wohnung der Betroffenen, teils kommen sie zur Beratung in die Räume der Caritas. "Auf Wunsch ist aber auch ein selbstgewählter neutraler Ort möglich, zum Beispiel ein Café, oder man trifft sich zum Strandspaziergang. Welche Unterstützung die Eingliederungshilfe gibt, richtet sich nach den Zielen, die sich derjenige vorgenommen hat. wie Behördenbesuche und Antragstellungen, Telefonate mit Ärzten, die Bezahlung von Rechnungen oder das Aufräumen der vermüllten Wohnung. Wie viel Hilfestellung jemand braucht, ist unterschiedlich. "Ein Klient hatte mit mir zusammen den Antrag auf Bürgergeld ausgefüllt, aber er hat es nicht geschafft, ihn dann auch beim Amt einzuwerfen. Einige Zeit später stand er wieder hier vor der Tür." Die Beratung könne nur Hilfe anbieten, dürfe die Menschen aber nicht bevormunden oder übergriffig sein.
Großer Bedarf bestehe bei Hilfen zur Überwindung der sozialen Isolation. "Viele wissen gar nicht, welche Angebote es gibt, wo sie Menschen treffen könnten. Wir helfen ihnen bei der Auswahl, gehen auf Wunsch auch mit zum Treffen." Im Moment liegt der Fokus bei der Caritas noch auf der qualifizierten Assistenz durch ausgebildete sozialpädagogische Fachkräfte. Mit der Stadt laufen Verhandlungen, damit die Caritas auch eine sogenannte kompensatorische Assistenz anbieten kann - einfach ausgedrückt: eine Alltagsbegleitung. Diese geht dann zum Beispiel mit den Menschen einkaufen oder spielt mit ihnen Karten.
Bei allen Unterstützungsangeboten "geht es nicht permanent nur um Problemlösung, sondern auch darum, ein Ohr für denjenigen zu haben, ihn kennenzulernen", betont Willumsohn. Nur so könnten die Klienten Vertrauen entwickeln. "Sie merken dann: Hier kann ich Dinge loswerden." In manchen Fällen kann die Hilfe über Jahre laufen. Je nach den individuellen Bedürfnissen vermittelt die Caritas auch an andere Hilfsangebote weiter - etwa an die Schuldnerberatung oder in eine Therapie.
Aktuell begleitet die Eingliederungshilfe der Kieler Caritas neun Menschen. "Wenn ein größerer Klientenstamm da ist, werden wir auch Gruppenangebote entwickeln", plant Tom Willumsohn. Denkbar sei zum Beispiel eine Kochgruppe, sportliche Aktivitäten oder ein gemeinsamer Besuch bei der Kieler Woche. "Die Betroffenen merken dadurch: sie sind nicht allein, anderen geht es auch so wie ihnen."
Tom Willumsohn