Die Schattenseiten der Gesellschaft hautnah erleben
Dr. Wolfgang Bost untersucht Eileen Riedels schmerzende Hand.
Das Leben auf der Straße ist hart. Viele obdachlose Menschen macht es krank. Gleichzeitig fehlen Behandlungsmöglichkeiten, und versichert sind die Wenigsten. Hier setzt ein Angebot der Caritas in Hamburg an: Das Krankenmobil sucht arme und wohnungslose Menschen an den Brennpunkten der Stadt auf und bietet ihnen eine ambulante medizinische Versorgung an. Kostenlos können sie sich an fünf Tagen in der Woche untersuchen und behandeln lassen.
Die CARInews hat das Krankenmobil auf einer seiner Touren begleitet.
Die rollende Praxis fährt zu verschiedenen Standorten, die üblicherweise von der "Zielgruppe" aufgesucht werden. Erste Station heute: Der Platz vor der Bahnhofsmission am Glockengießerwall. Der Zulauf ist hier laut Projektleiter Lutz Gröchtemeier überschaubar geworden, seitdem die Polizei rund um den Bahnhof verstärkt Präsenz gegenüber obdachlosen und suchtranken Menschen zeigt. Straßensozialarbeiterin Melida Tastan, die im Rahmen des städtischen Angebots "Visite Sozial" das Krankenmobil unterstützt, bestätigt das: "Dadurch wird uns die Arbeitsgrundlage entzogen. Wir verlieren die Klienten und wissen nicht, wo sie hingehen." Die Streetworkerin unterstützt die Ärzt_innen und Pflegekräfte, indem sie übersetzt. Sie und ihre Kolleg_innen decken viele Sprachen ab, die von den Patient_innen gesprochen werden - vor allem türkisch sowie osteuropäische Sprachen. Heute dolmetscht sie für mehrere Kranke, die wenig oder gar kein Deutsch können. Melida Tastan hilf aber nicht nur bei der sprachlichen Verständigung, sondern beantwortet auch Fragen zur Vermittlung an andere Dienste und Einrichtungen oder allgemeine Fragen zu Obdachlosigkeit.
Der erste Patient an diesem Tag ist ein obdachloser Mann mit einem deutlich sichtbaren Hautausschlag. Er spricht nur polnisch, was die Verständigung erschwert. Lea Ströterau und Sarah Menn - zwei Streetworkerinnen, die für das Projekt "Straso Neustadt" tätig sind - haben ihn zum Krankenmobil begleitet. Sie kennen die Gruppe von Obdachlosen, zu der er gehört: "Andere in der Gruppe sind auch krank, sie leiden an Bindehautentzündung und Wunden. Aber sie haben sich geeinigt, dass dieser Mann es heute am nötigsten hat, und passen derweil auf seine Sachen auf."
Bei der Untersuchung zeigt sich: Der Patient hat am ganzen Körper Schuppenflechte. Krankenversichert ist er nicht. Lutz Gröchtemeier vermittelt ihn an die Krankenstube der Caritas weiter, wo er für eine Woche bleiben kann. Neben der Pflege ist wichtig, dass er dort zur Ruhe kommt: "Schlafen, ordentlich essen, kein Stress", beschreibt Gröchtemeier die Therapie. Bei einem anderen Patienten mit diesem Krankheitsbild, der dort unterkam, sei der Befall fast komplett zurückgegangen.
Das Krankenmobil ist für viele Patient_innen eine erste Anlaufstelle, von der aus sie weitervermittelt werden. Die Diagnosen stellen ehrenamtliche Ärzte und Ärztinnen. Heute ist Dr. Wolfgang Bost "an Bord": Der Allgemeinmediziner übernimmt zweimal im Monat den Dienst im Krankenmobil. Eigentlich ist er im Ruhestand, sein Praxis hat er verkauft. "Aber dann habe ich mich gefragt: Was kann ich mit meiner medizinischen Erfahrung noch Sinnvolles tun?" Bei einem Ehrenamtstag erfuhr er vom Krankenmobil und entschied sich, in das ärztliche Team einzusteigen. Dieses besteht aus rund 25 Mediziner_innen verschiedener Fachrichtungen - aus der Allgemeinmedizin, aber auch aus der Chirurgie, dem Bereich HNO und der Anästhesie. Die Altersspanne reicht von Ende 20 bis Mitte 70. Bei den Patient_innen, die sie versorgen, haben sie es oft mit Hautproblemen und schlecht verheilten Wunden zu tun. Auch Stichverletzungen sind dabei, die im Krankenhaus erstversorgt, dann aber nicht weiter behandelt wurden. "Die Krankenhäuser wehren sich gegen die Aufnahme und Behandlung dieser Menschen", kritisiert der Arzt. Das Krankenmobil könne "nur einen Teil des Elends lindern". Dennoch seien die Patient_innen für das Angebot dankbar. "Hier kann man die Schattenseiten der Gesellschaft hautnah erleben, mit denen wir normalerweise nicht zu tun haben", beschreibt Wolfgang Bost seine Erfahrung.
Lutz Gröchtemeier, der als Pflegefachkraft den Ärzten zur Seite steht, hat beobachtet, dass chronische Grunderkrankungen bei den Hilfesuchenden zunehmen. "Die Leute werden kränker, es sind auch mehr ältere Leute auf der Straße." Auffällig ist für ihn auch, dass mehr Menschen mit großen und schwer zu behandelnden Wunden das Krankenmobil aufsuchen. Manche müssten ins Krankenhaus - aber: "Wir dürfen sie nicht einweisen oder zur Klinik bringen. Sie müssen selbst dort hingehen." Das betrifft auch einen Patienten, der heute mit einer chronischen Leber-Erkrankung das Krankenmobil aufsucht. "Er sollte ins Krankenhaus. Ob sie ihn dort behandeln, ist offen."
Die nächste Station des Krankenmobils ist der Tagesaufenthalt "Herz As" in der Norderstraße. Hier wartet der 62-jährige Thilo Wagner schon auf die Gelegenheit, sich neue Medikamente zu holen. Aufgrund von Bandscheibenschäden leidet er unter starken Schmerzen. Außerdem hat er Herzprobleme, Diabetes, einen grauen Star und ist psychisch angeschlagen. Im vergangenen Herbst kam er nach Deutschland zurück, vorher hatte er 25 Jahre in Portugal gelebt. "Dort war ich viel Offroad mit dem Jeep unterwegs, das hat mir meine Bandscheiben kaputtgemacht." Nach seiner Rückkehr nach Deutschland lebte er zunächst von seinen Ersparnissen und übernachtete im Hotel. Irgendwann war das Geld aufgebraucht. Mit der neuen Lebenssituation ist er überfordert: "Hier ist alles stressiger als in Portugal. Ich habe hier keine Familie und auch keine Freunde." Er erzählt, dass er von einer Behörde zur anderen geschickt worden sei - bis er einen Nervenzusammenbruch hatte und wegen Suizidgefahr in eine Klinik eingewiesen wurde. Jetzt lebt Thilo Wagner in einer Unterkunft für Wohnungslose und ist arbeitslos. Dank der Versorgung durch das Krankenmobil kann er nun wenigstens etwas gegen seine Rückenschmerzen tun.
Die mobile Praxis fährt weiter. Nächste Station ist die Reeperbahn, mitten im Großstadtleben. Schon nach kurzer Zeit steuern die ersten Patient_innen auf das Krankenmobil zu. Eine davon ist Eileen Riedel. Ihr ist es wichtig, optisch nicht als Obdachlose aufzufallen: "Ich achte darauf, dass ich gepflegt und ordentlich aussehe." Sie würde gerne eine Psychotherapie machen, "aber es ist schwierig, einen Psychologen zu finden, der Obdachlose nimmt". Im Moment hat sie noch ein anderes Problem: Ihre Hand lässt sich nicht richtig bewegen, sie schmerzt und schwillt an. Von außen ist nur eine kleine Verletzung zu sehen. "Sie hat eine Scherbe in die Hand bekommen, und die Wunde wurde nicht richtig versorgt", berichtet Lutz Gröchtemeier nach der Behandlung. Zur weiteren Versorgung geht Eileen Riedel zu CariCare, dem Pflegestützpunkt der Caritas.
Das Team kümmert sich an diesem Nachmittag noch um weitere Patient_innen mit vielfältigen Beschwerden. Am Ende ist dann noch Ortskenntnis gefragt: Ein Rucksacktourist im Rentenalter ist auf der Suche nach dem Star Club, "wo die Beatles immer gespielt haben". Lutz Gröchtemeier kann auch hier weiterhelfen. Dann rollt das Krankenmobil in den Feierabend. Morgen geht es wieder auf Tour.