Warum Karl Rahner?
Doch in der kirchlichen und auch allgemeinen Öffentlichkeit sind Person und Werk Karl Rahners kaum noch bekannt. Das ist sowohl bedauerlich als auch bedenklich, denn Karl Rahners Impulse können auch heute wirksame Hilfe sein in einer Welt, in der die Gottesfrage kaum noch gestellt wird.
"Die deutsche katholische Theologie hatte in der zweiten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil Weltgeltung. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, dass die katholische Kirche eine milieukatholische oder gegengesellschaftliche Enge überwunden hat und in vorher beargwöhnte Dialoge eingetreten ist, sei es in ökumenischer, religiöser, gesellschaftlicher oder auch politischer Hinsicht. Durch prägende Persönlichkeiten ist sie auch in der Leitung der Weltkirche angekommen. Karl Rahners Werk hat dabei eine große anregende Qualität gehabt und ist nach wie vor in vieler Hinsicht hilfreich."1
Die nachfolgende kleine Dokumentation von Aussagen über die Theologie Karl Rahners kann vielleicht anregen, sich dem Werk dieses Jahrhunderttheologen wieder neu zu zuwenden. Denn vielleicht ist gerade die Theologie Karl Rahners dazu imstande, "das Fragen zu lernen"2.
Das Irritieren von Selbstverständlichkeiten und (angenommenen) Plausibilitäten wird nämlich gerade heute ein Dienst der Glaubensvermittlung sein (müssen). Wenn die Gottesfrage gänzlich verstummt, wird es nicht lange dauern, bis auch die Frage nach dem Menschen nicht mehr gestellt wird.
Nietzsche hat es vorausgesehen, wohin der "Tod Gottes" führt. Wir taumeln dann nur noch ohne Orientierung im unendlichen Raum. Und Dostojewskis Diagnose: "Wenn Gott verschwunden ist, dann ist alles erlaubt", scheint ebenfalls heute weithin Realität zu sein, wenn man die vielfältigen, sich gegenseitig verstärkenden globalen Krisen betrachtet. Das Diktum Sartres, dass menschliche Existenz eine "verdammte Existenz" ist, scheint das Zeitgefühl vieler Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu treffen. Denn Angst und Ohnmacht spiegeln sich in vielen Gefühlen wider, die eng verbunden sind mit Fantasien der Allmacht und der Hybris absoluten Wissens und Könnens, insbesondere im politischen Raum, der nicht selten von Extremisten und Populisten dominiert wird.
Joseph Ratzinger schrieb einmal in "Wendezeit für Europa" angesichts des Ausfalls des Religiösen im politischen Raum:
"Die Erfahrung der Unerlöstheit, der Entfremdung verstärkt sich, und die Erfüllung, die jenseits nicht sein kann und die von keiner Gnade geschenkt wird, muss nun in dieser Welt durch eigenes Handeln bewerkstelligt werden. Damit wird aber an die Politik eine Erwartung geknüpft, der sie nicht entsprechen kann. Die zur Politik gewordene Religion überfordert die Politik und wird damit zu einer Quelle der Desintegration des Menschen in der Gesellschaft."3
In diesen Raum hinein sprechen die Impulse Karl Rahners, auf die einige seiner Interpreten aufmerksam gemacht haben. Sie können kraftvoll, tröstend und heilend sein - wenn man sich auf sie einlässt! Diese kleine Sammlung möchte dazu Mut machen, sich auf die Impulse eines Glaubenszeugen einzulassen, dessen Werk eine Glaubenshilfe für Gegenwart und Zukunft sein kann und - so meine Hoffnung - sein wird. Ja, mir scheint, dass das Werk Karl Rahners "erst noch im Kommen" begriffen ist.
Beginnen möchte ich diese kleine Sammlung wichtiger Aussagen über Karl Rahners Theologie mit einem frühen Gebetswort Rahners. Es ist so recht ein Gegenstück zum neuzeitlich wirkmächtigen "Ich denke, also bin ich" und kann etwas vermitteln von dem, was allem Glauben zugrunde liegt: Wir sind vor allem eine verdankte Existenz.
"Was habe ich also anders dir von dir zu sagen, als dass du der bist, ohne den ich nicht sein kann, als dass du die Unendlichkeit bist, in der allein ich, Mensch der Endlichkeit, zu leben vermag? ... Ich bin der, der sich nicht selbst gehört, sondern dir. Mehr weiß ich nicht von mir, mehr nicht von dir - Du -, Gott meines Lebens, Unendlichkeit meiner Endlichkeit."4
"Rahner ist der Theologe der Universalität der Gnade. Man wird diesen Ehrentitel auch anderen Theologen des 20. Jahrhunderts geben können…, aber der Rahnersche Duktus ist gerade darin ganz spezifisch, dass er sich diesem großen Thema, dem universalen Heilswillen Gottes… in der Banalität des Alltags widmet… Dass die Tiefe des Menschlichen und des Christlichen nicht voneinander zu trennen sind, ist für Rahner eine theologische Kernaussage."5
"Für viele ist Jesus doch irgendwie gefühlsmäßig eine Bezugsperson, die einen aufrichtet, tröstet, ermuntert, zur Nächstenliebe animiert, Gemeinschaft stiftet usw. Das ist aber im Grunde alles peripher zur radikal theozentrischen Bedeutung Jesu, also der Bedeutung Jesus bezüglich des absoluten Gottes in dem Sinn, dass Jesus die geschichtlich einzig absolut greifbare und universal siegreiche Verheißung Gottes ist; dass nämlich Gott sich als das Heil nicht nur anbietet, sondern von sich aus auch wirkt…"6
"Das ‚unterscheidend Christliche‘ nach Rahner ist das allen Menschen von Gott angebotene, seine Gnade. Während, so kann man sagen, sich andere Identitäten durch Abgrenzungen bestimmen, ist das Christliche als das Gemeinsame aller Menschen auf Grund ihrer Herkunft und Zukunft in Gott auszulegen."7
"Rahner… fragt, was denn der Theologe in seiner Anthropologie eigentlich aus dem Glauben vom Menschen wisse. Er antwortet: "Dass er das Wesen sei, das sich in Gott hinein verliert. Sonst doch eigentlich nichts. Denn nur was in diesem Satz impliziert ist, oder was unter diesem Horizont vom Menschen ausgesagt wird, ist eine wahrhaft theologische Aussage. Jede andere Aussage über den Menschen erhält ein theologisches Gewicht nur, wenn sie darauf zurückgeführt werden kann oder von daher verstanden wird, wenn einsichtig wird,… dass die Leugnung einer bestimmten Aussage die Verwiesenheit des Menschen auf Gott aufheben würde."… Wenn der Mensch Geheimnis ist, dann gilt für ihn dasselbe wie im Hinblick auf Gott: er darf sich auch von sich selbst kein ‚Bild‘ machen, in dem er meint, in vielen Einzelzügen (über sein letztes Wesen hinaus) ein für allemal erfassen zu können, was er ist."8
"Die hypostatische Union des Christusereignisses figuriert so in der Argumentation Karl Rahners als die zentrale Dimension für den Ausweis der Legitimität der anthropologischen Wende der Theologie." (87 f)9
"Der Mensch existiert von der Selbstmitteilung Gottes her und auf sie hin - Dieser Elementarsatz der theologischen Anthropologie Karl Rahners kann auf Grund der bisherigen Darstellung als Grundlage und Vermittlungskriterium der anthropologisch ansetzenden Theologie gelten." (80 f)
"Für das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Wirklichkeit zueinander und damit für alle anthropologisch beginnende Theologie heißt das letztlich und grundsätzlich: "Das Objektivste der Heilswirklichkeit, nämlich Gott und seine Gnade erscheint zugleich als das Subjektivste des Menschen, nämlich die Unmittelbarkeit des geistigen Subjekts zu Gott durch diesen selbst." (91)
"Die Dimensionen der Anthropologie erhalten nach Rahners Konzeption im Christusereignis ihre wesentliche Form und Dynamik. Weil - wie K.P. Fischer zusammenfassend schreibt - ‚der Abstieg Gottes‘ den ‚Aufstieg des Menschen‘ bedeutet und darum ‚Christologie als transzendierende Anthropologie‘ und zugleich umgekehrt ‚Anthropologie als defiziente Christologie‘ gelten kann, darum erschließt sich die theologische Relevanz der Christologie für die Anthropologie in der grundsätzlichen Bestimmung: "Christus als ‚Ek-sistenz des Menschen." (85 f)
"Das letzte Wort der Theologie an den Menschen ist nicht die theoretische Spekulation über das Maß an Freiheit und Verantwortlichkeit in Einzelfällen, sondern die Zusage, dass sich Gott in seiner Gnade dem Menschen zu liebender Nähe anbietet und auch die akthafte Annahme seiner Selbstmitteilung in der personalen Liebesekstase noch von Gott ermöglichend getragen ist."10
"Das letzte Wort der Theologie Karl Rahners als anthropologischer ist die mystagogische Aufforderung, die Nächstenliebe zu vollziehen als Verähnlichung Christi und als Erfüllung des Begriffes, den Gott mit seiner Inkarnation vom Menschen gebildet hat."11
"Die Theologie ist der die ganze Existenz kostende Aufwand, die Geheimnishaftigkeit Gottes als vom Menschen anzunehmende zu verteidigen gegenüber dem hybriden Zugriff auf Gott. Damit ist aber die Theologie als unter dem Gesetz der Analogie stehende notwendig ein schmerzhaftes Tun."12
Noch einmal und schlussendlich: Warum Karl Rahner? Diese Frage kann niemand besser beantworten als Karl Rahner selbst. Darum gebührt ihm auch das letzte Wort in dieser Angelegenheit:
"Alles Kirchliche, also alles Institutionelle, Rechtliche, Sakramentale, alles Wort, aller Betrieb in der Kirche und also auch alle Reform von all diesem Kirchlichen ist im letzten Verstand und in der letzten Absicht, so es sich nur selber richtig begreift und sich nicht selbst vergötzt, reiner Dienst, bloße Hilfestellung, für etwas ganz anderes, etwas ganz Einfaches und so gerade unbegreiflich Schweres und Seliges zumal: für Glaube, Hoffnung und Liebe in den Herzen aller Menschen."13
1 Albert Raffelt in Patria e Umanita, Trieste, 2023Pensa Editore XVI, S.321 - 346 (hier 321 f)
2 Titel des Theologischen Jahrbuchs 1975, Leipzig
3 Joseph Ratzinger "Wendezeit für Europa, Freiburg 1992, S. 113
4 "Beten mit Karl Rahner", Band 2 "Gebete des Lebens", Freiburg-Basel-Wien 2004, S. 27
5 Albert Raffelt in "Von der Gnade des Alltags", Freiburg-Basel-Wien 2006, S. 81-86
6 Paul M. Zulehner: "Du kommst unserem Tun mit deiner Gnade zuvor" - Zur Theologie der Seelsorge, Paul M. Zulehner im Gespräch mit Karl Rahner", Düsseldorf, 1984, S. 94; SW 28, S. 302
7 Roman A. Siebenrock in "Nach Rahner" - post et secundum, Köln 2004, S. 86
8 Siegfried Hübner in "Gott als Geheimnis des Menschen" von Klaus P. Fischer/ Siegfried Hübner, Wiesmoor 2015, S.105 f
9 Diese Aussagen stammen von Anton Losinger "Orientierungspunkt Mensch", St. Ottilien 1992 - Die in Klammern stehenden Zahlen geben die jeweiligen Seitenzahlen an.
10 Ralf Miggelbrink "Ekstatische Gottesliebe im tätigen Weltbezug", Altenberge 1989, S. 148
11 Ebd., S. 317
12 Ebd., S.70
13 Karl Rahner "Das Konzil - ein neuer Beginn", mit einer Hinführung von Karl Kardinal Lehmann, herausgegeben von Andreas R. Batlogg und Albert Raffelt, Freiburg-Basel-Wien 2012, S.52- Der Text des Vortrages von Karl Rahner ist auch abgedruckt in Rahners SW, 21/2, S. 775 ff