Caritas als Grundvollzug der Kirche – Das Profil schärfen
Dabei wurden einige Wegmarken für die Zukunft aufgestellt: (1)
- Caritas muss sich fragen, wo die elementaren Nöte der Menschen in unserer Zeit sind.
- Kirchliches Leben ist nur glaubhaft und wirkt auf andere anziehend, wenn es durch tätige Nächstenliebe deutlich wird.
- Soziale Arbeit darf nicht ausschließlich Unternehmensarbeit werden.
- Caritas muss sich gesellschaftskritisch einbringen auf Grundlage der Prinzipien der katholischen Soziallehre: Personenwürde, Gemeinwohl, Subsidiarität und Solidarität.
Heute ist dieses Jubiläum fast 30 Jahre her. Und eine Entwicklung war 1996 in struktureller Hinsicht so noch gar nicht absehbar, nämlich, dass es im Jahr 2019 die Caritas Mecklenburg nicht mehr gibt. Sie fusionierte am 21. April 2018 mit den beiden Caritasverbänden von Schleswig-Holstein und Hamburg zum Caritasverband für das Erzbistum Hamburg e.V. Diese Veränderung hatte eindeutig (auch) wirtschaftliche Ursachen und Gründe: Das Controlling sollte verbessert werden, man versprach sich von einem größeren, einheitlichen Verband für das Erzbistum Hamburg mehr Synergien, mehr Innovation und auch größere Effizienz und Effektivität in den einzelnen Diensten und Einrichtungen durch Straffung wirtschaftlicher und verwaltungstechnischer Vorgänge.
IN DIESEM PROZESS BEFINDEN WIR UNS NACH WIE VOR.
Ein anderer Aspekt ist die Überlegung, wie diese Entwicklung der Caritas sich auswirkt auf ihr Selbstverständnis als kirchlicher Grundvollzug. In dem einen Caritasverband für das Erzbistum Hamburg sollen die Regionen gestärkt werden, indem sie gleichzeitig sich als Teil eines Großen und Ganzen wissen und erleben. Paragraf 2 der Satzung regelt in Ziffer 11 die Aufgaben des Verbandes, die in engem Zusammenhang mit den Pfarreien und Gemeinden unseres Erzbistums stehen.
Der Caritasverband…
"fördert die Entwicklung und Reflexion der caritativen Praxis in Gremien und Gemeinden sowie im Sozial- und Pastoralraum und sorgt für eine Vernetzung der katholischen Pfarreien mit der verbandlichen Caritas."
Hinter all diesen Formulierungen stehen die Impulse des II. Vatikanischen Konzils.
Das Konzil hat mit kaum zu überbietender Deutlichkeit hervorgehoben, worum es der Kirche mit ihrer Caritas bei all dem zu gehen hat, wenn sie ihr Profil nicht nur behalten, sondern schärfen will:
"Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi." (2)
Diese konziliaren Impulse haben ganz konkret etwas mit dem kirchlich-caritativen Selbstverständnis im Alltag zu tun, einfach deshalb, weil Gott das Heil aller Menschen will und Menschen auch und besonders im Heilsvollzug keine "Marionetten" sind.
Außerdem:
- Überall, wo Gutes geschieht, ist Gottes Geist am Wirken, denn es gibt nichts Gutes, das wir als Menschen eigenmächtig "leisten" können.
- Weil also wirklich jede sittlich gute Tat - egal, wo und wann und durch wen sie geschieht - immer einen Bezug zu Gott und damit auch zu Christus hat, ist sittlich gutes Tun gewissermaßen vom Christusereignis "imprägniert".
- Wenn es einen Heilsvollzug nur gibt in irgendeiner Art der Beziehung zu Christus, dann ist damit auch ein Bezug zu SEINER Kirche mit gesetzt. Denn sie ist ohne Beziehung zu Christus weder denkbar noch real.
Als praktische Richtschnur für die Arbeit der Caritas, als Orientierung im Hier und Jetzt, mag Karl Rahners "Gebet eines Laien" stehen:
"Ich muss nicht auf der Kanzel predigen, aber - was schwerer ist - durch mein Leben das Evangelium bezeugen. In einer Umgebung, die weder ausdrücklich das Christliche ablehnt, noch es wirklich liebt, sondern alles Religiöse tabuisiert..." (3)
Es gibt dazu noch ein anderes Wort Karl Rahners, das zunächst auf mich schockierend wirkte. Doch wenn ich an die so genannten "Heiligen der Nächstenliebe" denke, auch in unserer Zeit (4), glaube ich: Dieses Wort ist deshalb wahr, weil Kirche nur so ihren Wesensvollzug erreicht. Rahner schreibt in seinem "Strukturwandel":
"Der Wille zur Kirchlichkeit der Menschen muss somit in der Kirche ein Wille sein, dass diese kirchlichen Christen allen dienen… Die Kirche hat auch dann für Gerechtigkeit, für die Würde des Menschen einzutreten, wenn es ihr selbst eher schadet…"
Und weiter:
"Wo die Kirche mehr an sich selber denkt und sich anders selbst zu retten sucht als durch die Rettung der anderen", (5)
dort hat sie sich bei näherer Betrachtung eigentlich selber aufgegeben.
Frage: Warum ist das so? Und: Wo ist das untrügliche Kriterium für die Wahrheit kirchlichen Tuns in der Welt?
Das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter, die Seligpreisungen aus der Bergpredigt, Jesu Rede vom Weltgericht, in dem er sich mit den Ärmsten und Geschundenen identifiziert, der "barmherzige Vater", der dem "verlorenen Sohn" entgegenläuft, als er ihn kommen sieht und der "gute Hirt", der die Schafe im sicheren Stall verlässt, um dem verirrten Schaf nachzusteigen, um es aus allen Wirrungen und Irrungen wieder heimzubringen - all das sind für alle Zeiten Worte "wie in Stein gemeißelt". Keine Exegese wird sie "weginterpretieren" oder umdeuten können. Sie sagen sogar etwas - und sehr Wesentliches! - über das Amt in der Kirche:
"Der Christ… Sein Amt ist, in der Nächstenliebe die Gegenwart der absoluten Liebe sowohl zu erfahren wie selbst zu verwirklichen und sichtbar zu machen." (6)
Diese Worte zeigen zudem verlässlich, dass es Kirche ohne Caritas nicht geben kann. Sie zeigen aber auch, dass Caritas nicht nur geistliche Ermutigung braucht, sondern dass es Caritas oft auch dort gibt, wo sie sich selbst ganz anders versteht.
Denn: Es ist immer lohnend, von Gottes Geist und seinem Wirken möglichst groß und weit zu denken.
Fußnoten:
1 50 Jahre Caritas Mecklenburg, Schwerin 1996, S. 34 f
2 Gaudium et Spes 1
3 Karl Rahner "Gebete des Lebens", Freiburg-Basel-Wien 1993, S. 163 f
4 Natürlich denke ich da zuerst an Mutter Teresa, aber auch an das Engagement von Madeleine Debrel oder an Carlo Carretto. Die Aussage Hans Urs von Balthasars hat nichts von ihrem Wahrheitsgehalt eingebüßt, die sinngemäß lautet, dass der beste Kommentar zum Evangelium das Leben der Heiligen ist. Es ist gleichzeitig dessen Verifikation.
5 Strukturwandel, S. 67 f
6 Hans Urs von Balthasar "Herrlichkeit", III,1, Teil 2 - Neuzeit, S. 977